Brexit-Showdown in London
Das Unterhaus soll am Dienstagabend über den mit der EU ausgehandelten Brexit-Vertrag abstimmen. Es gilt als ausgemacht, dass das Papier durchfallen wird, zumal das Parlament die Regierung schon vergangene Woche zur Veröffentlichung eines Gutachtens zwang. Doch Theresa May könnte die Abstimmung auch noch verschieben, berichten Medien. Kommentatoren skizzieren eine Situation voller Unsicherheit.
Zwei handfeste Verfassungskrisen
Das Ringen um die richtige Form des Brexit erschüttert den britischen Staat bis ins Mark, analysiert The Irish Independent:
„Derzeit gibt es ein Machtvakuum: Hat die Tory-Minderheitsregierung das Sagen? Oder ein rebellisches Parlament? Oder das Volk, das erneut befragt werden könnte? Es handelt sich hierbei nicht um einen alltäglichen Streit, der mit den vorhandenen politischen Instrumenten beigelegt werden könnte, sondern um eine Verfassungskrise. Wobei das Ringen des Parlaments mit der Regierung nur die offensichtlichere von zwei Verfassungskrisen ist, in die Großbritannien nach dem Brexit-Referendum 2016 geschlittert ist. Die zweite gefährdet das Weiterbestehen der britischen Union. Die beiden Landesteile Schottland und Nordirland votierten 2016 für einen Verbleib in der EU. Ihre politische Verbundenheit mit dem britischen Staat ist daher deutlich geschwächt.“
Her mit dem dritten Referendum
Eine erneute Abstimmung über den Brexit wäre mehr als angebracht, erläutert Die Presse:
„Die Bürger sollen darüber befinden, ob dieser Austritt unter den nun vereinbarten Bedingungen für Großbritannien der bessere Weg ist oder doch ein Verbleib in der Europäischen Union. Dem Argument, dass eine solche neuerliche Volksabstimmung demokratiepolitisch problematisch wäre, ist entgegenzuhalten, dass erst jetzt die exakten Bedingungen und Konsequenzen bekannt sind. Und es ist zu entgegnen, dass es sowieso bereits die dritte Abstimmung zu demselben Thema wäre. Denn bereits 1975 haben sich die Briten in einer Volksabstimmung entschieden, in der damaligen EWG zu bleiben. Beim neuerlichen Anlauf 2016 hat das niemanden gestört. Warum also jetzt?“
Parlament zeigt, wo es langgeht
Das Parlament hat die Schwäche der Regierung entblößt, findet Gazeta Wyborcza:
„In der Tat versuchten die Minister, die Veröffentlichung einer Rechtsanalyse zu verhindern, weil sie ein Geschenk für ihre Kritiker wäre. In Großbritannien werden solche Dokumente normalerweise nicht veröffentlicht. Dennoch verlor die Regierung die Abstimmung mit 293 zu 311 Stimmen. ... Das beweist erneut, dass May keine stabile Mehrheit hat. Die Abgeordneten stimmten für eine Änderung der Tagesordnung und zeigten, dass das Parlament der Regierung vorschreiben kann, was als nächstes zu tun ist, falls Mays Plan fehlschlägt.“
May ist einsam und schlecht beraten
Theresa May leistet sich einen Fehler nach dem anderen, schimpft The Guardian:
„Die Begründung der Regierung dafür, warum sie die Details über die Folgen des Verbleibs in der Zollunion nicht veröffentlichen wollte, war gehaltlos. Natürlich gilt der Grundsatz, dass Rechtsberatung geheim ist. Doch nach einer zweijährigen Phase, in der die Brexit-Debatte von Verlogenheit geprägt war, ist Heimlichtuerei fehl am Platz. ... Dass das Unterhaus der Regierung mit einer Mehrheit von 311 gegen 293 Stimmen 'Missachtung des Parlaments' vorwarf, ist noch bedenklicher. Es zeigt, mit wie wenig Loyalität Theresa May rechnen kann. Und es macht deutlich, wie schlecht sich die Regierung beraten lässt. Das Abstimmungsergebnis im Unterhaus war voraussehbar und - weil eine solche Niederlage peinlich ist - vermeidbar.“
Nur noch Schadensbegrenzung?
In dem Gutachten wird Schwarz auf Weiß stehen, dass der Verbleib Großbritanniens in der Zollunion nicht, wie Premierministerin May sagt, vorübergehend sein wird, prophezeit Leonardo Maisano, London-Korrespondent von Il Sole 24 Ore:
„Wenn London und Brüssel in den künftigen Verhandlungen keine alternativen Lösungen zur irischen Frage finden, dann bleibt das gesamte Königreich an die Zollunion gebunden. London wird also nicht in der Lage sein, autonome Handelsabkommen zu unterzeichnen, es wird letztendlich die ersehnte volle Unabhängigkeit von der Union nicht wiedererlangen, die der Eckpfeiler der Referendumskampagne 2016 war. Damit ist der Brexit sinnentleert. Er reduziert sich auf eine Übung zur Schadensbegrenzung ohne finale Belohnung.“