Wie soll Europa mit IS-Rückkehrern umgehen?
Nachdem US-Präsident Trump Europa in einem Tweet aufgefordert hat, rund 800 europäische IS-Kämpfer zurückzunehmen, läuft die Debatte über die Rückkehr von Dschihadisten auf Hochtouren. Großbritannien hat nun der 19-jährigen IS-Anhängerin Shamima Begum die Staatsbürgerschaft entzogen. Die Debatte darüber wird emotional geführt.
Islamisten nicht auch noch ermutigen
Dass die USA und Großbritannien zwei Frauen, die einst nach Syrien zur Terrormiliz IS gegangen waren, nicht aufnehmen wollen, findet der Journalist Iwan Jakowyna in Nowoje Wremja richtig:
„Ich hoffe sehr, dass beiden in den Hintern getreten wird und man sie in kein einziges westliches Land einreisen lässt. Denn sie müssen die Verantwortung dafür tragen, dass sie den Weg von Gewalt und Mord im Namen einer rückwärtsgewandten, obskuren Religiosität beschritten haben, obwohl sie in aller Ruhe in einer säkularen und demokratischen Gesellschaft hätten leben können. Sie zurückzunehmen, hieße, all die Abnormalen, die einen bewaffneten Kampf für ihre religiösen Überzeugungen für völlig normal halten, zu ermutigen. Der Westen läuft Gefahr, Hunderte und Tausende solcher Menschen zu bekommen.“
Britische Muslime wollen IS-Frau nicht zurück
Mit ihrem Fanatismus machen Menschen wie Shamima Begum gesetzestreuen Muslimen im Westen das Leben schwer, klagt die Autorin Anila Baig in The Sun:
„Niemand in meiner Familie und meinem Freundeskreis findet, dass Shamima Begum nach Großbritannien zurückgelassen werden sollte. ... Sie klagt darüber, wie 'ungerecht' die Entscheidung sei, sie aus Großbritannien rauszuschmeißen, und appelliert an unser Mitgefühl. Tut mir leid, mein Mitgefühl gilt uns anderen in der muslimischen Gemeinschaft. Jedes Mal, wenn es irgendwo in der Welt einen Anschlag gibt, halten wir den Atem an und hoffen und beten, dass nicht ein fehlgeleiteter 'Muslim' dahintersteckt. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 gab es in jedem einzelnen Fall eine Gegenreaktion - und immer sind es gesetzestreue Muslime, die die Hauptlast tragen.“
Londons Doppelmoral schreit zum Himmel
Dass niemand in Großbritannien in Erwägung zieht, der Ehefrau von Syriens Diktator, Asma Al-Assad, ebenfalls die britische Staatsbürgerschaft abzuerkennen, empört The Middle East Monitor:
„Die junge Frau aus Ostlondon, Shamima Begum, wird ganz anders behandelt als Asma Al-Assad. Und das, obwohl beide Frauen in London geboren und erzogen wurden, und obwohl beide mit Kriegsverbrechern verheiratet sind, die in Syrien Gräueltaten verübt haben. Wobei nur einer der beiden Chemiewaffen gegen Frauen und Kinder eingesetzt hat. ... Es scheint, dass das Rechtssystem in Großbritannien immer noch eine privilegierte Elite begünstigt, zu der auch Asma Al-Assad gehört, und nicht jene, die leichte Beute für rechte Medien und populistische Kommentatoren sind. Shamima Begum gehört nicht nur der falschen Klasse an, sondern hat im Gegensatz zur hellhäutigen Assad auch noch die falsche Hautfarbe.“
Prozesse in Belgien nicht sehr aussichtsreich
Angesichts der Erfahrungen der belgischen Justiz mit IS-Attentätern rät La Libre Belgique von einer Rückholung von Dschihadisten ab:
„Das Schweigen von Salah Abdeslam und Mehdi Nemmouche [angeklagt wegen des Anschlags auf das Jüdische Museum in Brüssel 2014] in den laufenden Prozessen gegen sie spricht nicht für eine Rückkehr erwachsener IS-Kämpfer nach Belgien. Wir wissen nicht, was in Syrien passiert ist und wer welche Verantwortung trägt. Die belgische Justiz hebt diesen Punkt hervor: Wie sollen im Fall einer Überstellung an ein belgisches Gericht die Ermittlungen ausgeführt werden, wo wir weder über Soldaten noch Polizisten in der Region verfügen? Nur die Amerikaner haben die Häftlinge systematisch vernommen. Ein in der Region angesiedeltes internationales Gericht wäre die beste Lösung.“
Europa muss Problem lösen oder auslagern
Auf diese mögliche Alternative zur Rücknahme von IS-Kämpfern geht auch die Wiener Zeitung ein:
„Müssen wir [Dschihadisten] zurücknehmen? Ja, denn in Europa können die Dschihadisten vor Gericht gestellt werden. Es gibt die nötige Infrastruktur, um sie zu bestrafen. Ihnen nun mithilfe von Tricks die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wie London das getan hat, ist unverantwortlich und feige. Auch Shamima Begum, jene 19-Jährige, der die britische Staatszugehörigkeit entzogen wurde, hat sich in England radikalisiert. ... Wer das Problem auslagern will, könnte auch anders vorgehen. Die Kurden wollen ein internationales Gericht auf syrischem Boden, darin könnte man sie unterstützen. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, den IS zu schlagen. Jetzt fehlen ihnen die Ressourcen, um die Gefangenen zu versorgen.“
Großbritannien hat eine Chance verpasst
Die britische Regierung hat Shamima Begum, die mit 15 nach Syrien zur IS-Miliz ging, die Staatsbürgerschaft entzogen. Das bedauert The Independent:
„Mit Berichten über die Lebensrealität im sogenannten Kalifat - mit Enthauptungen, Schlägen, Gewalt und vielem mehr - wäre Begum imstande gewesen, die falschen Vorstellungen jener zu entkräften, die der dschihadistischen Propaganda gerne Glauben schenken. Sie hat in ihrer Zeit im Kalifat zwei Kleinkinder verloren und muss sich nun in einem syrischen Flüchtlingslager um ein Neugeborenes kümmern. Begum hätte als glaubwürdige Warnung dienen können, welch großen Gefahren sich andere leicht beeinflussbare junge Briten aussetzen, wenn sie sich ideologisch pervertierten Gruppen anschließen. Sie hätte ein Vorzeigemädchen für britischen Anstand und starke Entschlossenheit sein können, das richtige für die eigenen Leute zu tun.“
Auf Dschihadisten wartet die Straflosigkeit
Dass viele zurückgeholte IS-Kämpfer in Schweden wohl straflos davonkommen würden, macht Expressen große Angst:
„In Norwegen war man deutlich vorausschauender. Dort gibt es ein Gesetz, das die Zusammenarbeit mit und die Beteiligung an terroristischen Organisationen verbietet. In Schweden gibt es solche Rechtsvorschriften noch nicht. ... Erst 2016 wurden Reisen in Terrorgebiete verboten, was bedeutet, dass die meisten Menschen, die aus dem IS-Gebiet zurückkehren, nicht einmal wegen dieses Verbrechens verurteilt werden können. Es ist eine verstörende Straflosigkeit, die die IS-Krieger erwartet, die nach Schweden zurückkehren. Damit würden nicht nur ihre Opfer in Syrien und im Irak verhöhnt, sondern die Dschihadisten stellen auch ein schwerwiegendes Sicherheitsrisiko für Schweden dar. ... In dieser Situation gibt es nur eine Antwort, die man Trump geben kann: Nein.“
Jugendliche mit Mitgefühl deradikalisieren
Jungen Menschen, die sich, wie die junge Britin Shamima Begum, dem IS angeschlossen haben, sollte man nicht mit Repressionen begegnen, fordert The Guardian:
„Selbst wenn man menschliches Mitgefühl als Reaktion des Staates nicht akzeptiert, so kann man nicht die Notwendigkeit abstreiten, mit der 'Deradikalisierung' beginnen zu müssen. ... Wir müssen zudem die Fehler einer Anti-Radikalisierungs-Strategie anerkennen, die dazu geführt hat, dass sich so viele junge Muslime als Opfer begreifen und isoliert fühlen, und die sie vielleicht noch anfälliger für Online-Rekrutierungen macht. Der aktuelle Ansatz funktioniert nicht. Gefährdete Jugendliche als individuelle Fälle und mit Mitgefühl zu behandeln, ist der bessere Weg vorwärts - und er fängt mit Begum an.“
Trump nutzt Europas Achillesferse aus
Trump will mit seiner Forderung Europa in Bedrängnis bringen, glaubt Hospodářské noviny:
„Im Namen radikaler Islamisten wurden 2015 und 2016 blutige Anschläge in Frankreich und Belgien begangen. Somit ist die Angst vor der Rückkehr solcher Leute gerechtfertigt. Sie wäre ein schwerwiegendes Sicherheitsrisiko. Es ist ein Unterschied, einem radikalen Islamisten auf dem Schlachtfeld zu begegnen oder vor einem unabhängigen Gericht in Ländern mit einem funktionierenden Rechtssystem. ... Von solchen Problemen weiß man natürlich auch im Weißen Haus. Donald Trump wollte wohl vor allem seine Verhandlungsposition gegenüber den schwachen Europäern stärken. Nach dem Motto: Wir zahlen viel für die Verteidigung; Sie haben da eine Bringschuld.“
Staaten sind für ihre Bürger verantwortlich
Bloße Aufregung über Trump hilft nicht weiter, meint Der Tagesspiegel:
„Natürlich: Die Art, wie die Forderung erhoben wurde, ist kontraproduktiv, mit Diplomatie haben solch nächtliche Tweets nichts zu tun. ... Doch schüttelt man die Empörung ab, wird deutlich, dass es wohl genau so kommen wird. Viele in Syrien gefangene deutsche, britische oder französische Staatsbürger werden am Ende in ihren Heimatländern vor Gericht gestellt werden. Denn Staaten sind für ihre Bürger verantwortlich, ob es nun 'Heilige' oder 'Terroristen' sind ... . Darum schiebt Deutschland straffällig gewordene Ausländer in ihre Heimatländer ab. Und darum wurden die USA dafür kritisiert, dass sie nach 9/11 das Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba errichteten.“
Es ist unser eigenes Gesindel
Auch De Standaard sieht Europa in der Pflicht:
„Natürlich müssen die Betroffenen vor ein Gericht kommen, wo ihnen sehr lange Strafen drohen. Aber irgendwann kommt die Freilassung. Das verpflichtet den Staat zu lebenslanger Nachsorge und Begleitung. Deradikalisierung bleibt ein äußerst mühsames Verfahren. Das Ende ist nie in Sicht. ... Von Sympathie oder Empathie kann keine Rede sein. Aber die Syrien-Kämpfer konfrontieren uns mit der Realität. Was für eine Gesellschaft wollen wir sein, mit welchen Werten? Wie gehen wir mit diesen Untertanen um, auch wenn sie unaussprechliche Untaten auf ihrem Gewissen haben? Wir können uns der Verantwortung nicht entziehen. Es handelt sich um Gesindel, aber es ist unser Gesindel.“
Zu großes Sicherheitsrisiko
In Großbritannien wird derzeit insbesondere der Fall von Shamina Begum diskutiert: Sie war vor vier Jahren als 15-Jährige nach Syrien gegangen und will jetzt als junge Mutter zurück. Sie bereue nichts, erklärte sie. Der britische Innenminister will sie nicht zurücklassen. Zu Recht, findet Irish Examiner:
„Regierungen stehen in der Verantwortung, sich um Staatsbürger zu kümmern, die im Ausland in Schwierigkeiten geraten. Doch ist es nicht so, dass diese Pflicht erlischt, wenn die um Hilfe ersuchende Person sich willentlich selbst in Gefahr gebracht hat, und darüber hinaus einer Organisation angeschlossen hat, deren Ziel die Zerstörung der eigenen Gesellschaft war? Genau das ist bei IS-Rückkehrern der Fall. Viele würden mit Recht behaupten, dass dem so sei - und dass die oberste Pflicht einer Regierung darin bestehe, ihre loyalen und gesetzestreuen Bürger zu schützen.“