Zahnlose Rechtsstaatlichkeits-Kritik der EU?
Die EU hat am Mittwoch ihren ersten Bericht zur Rechtsstaatlichkeit ihrer Mitgliedsstaaten veröffentlicht. Mängel, etwa in Sachen Pressefreiheit, Gewaltenteilung oder Korruptionsbekämpfung, sieht die Kommission nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in Ländern wie Bulgarien, Spanien oder Malta. Dass dies für die betroffenen Staaten ernste Konsequenzen haben wird, glauben Kommentatoren allerdings nicht.
Der Subventionshahn als Druckmittel
Mit der Androhung von Subventionskürzungen kann die EU Bulgarien in Bewegung versetzen, glaubt Webcafé:
„Das Positive ist, dass der aktuelle Bericht eine Form von Druck darstellt, von dem wir alle hoffen, dass er in die richtige Richtung geht. Die Gefahr, die Subventionen der Europäischen Union für 'ungehorsame' Länder einzustellen, ist derzeit real genug, um als Anreiz für Veränderungen und die Umsetzung von Reformen zu dienen. Rechtsstaatlichkeit - das ist das klare Ziel. Die Hoffnung ist, dass diese Reformen nicht nur leere Worthülsen auf einem Blatt Papier bleiben; dass es einen echten Wandel hin zu mehr Recht und Ordnung geben wird.“
Zum Zusehen verdammt
Die EU hat keine Handhabe, um die Missstände in gewissen EU-Staaten zu ahnden, zeigt sich der der Tages-Anzeiger besorgt:
„Die EU-Kommission zeichnet in ihrem ersten sogenannten Rechtsstaatsbericht ein beunruhigendes Bild. Viktor Orbáns Beispiel macht Schule, etwa in Slowenien oder in Tschechien. Auch in Polen ist die Gewaltenteilung praktisch ausser Kraft gesetzt, steht die Justiz im Dienst der rechtsnationalen Regierung, und in Bulgarien regiert überhaupt die Korruption. ... Der EU fehlt es an Instrumenten, um diesen Prozess zu stoppen. ... Die Niederländer und andere Nettozahler im Club müssen zusehen, wie Orbán und Co. mit ihren Steuergeldern den autoritären Umbau vorantreiben und ihre Vetternwirtschaft alimentieren. Das droht über kurz oder lang die EU zu zerreissen.“
Kein Grund zur Sorge für die PiS
Polens Regierung muss sich nicht fürchten, analysiert Rzeczpospolita:
„Der Bericht wird keine praktischen Konsequenzen haben - zumal der neue Mechanismus zur Verknüpfung der Auszahlung von EU-Mitteln mit der Rechtsstaatlichkeit erheblich geschwächt wurde. ... Das sind gute Nachrichten für die PiS: Es bedeutet, dass die EU-Kommission die Sache mit der Rechtsstaatlichkeit nicht hundertprozentig ernst nimmt. Die Nervosität der Politiker der rechten Parteien ist daher nicht gerechtfertigt, es sei denn, ihr Ziel ist es, das Misstrauen der Polen gegenüber der Europäischen Union weiter zu stärken.“
Der Ungarn-Teil ist nur Flickschusterei
Das Onlineportal Azonnali findet den Teil des Berichts, in dem es um Ungarn geht, zu oberflächlich:
„Der Bericht umfasst viele berechtigte Kritikpunkte und manches unverdiente Lob. Da man nicht einmal versucht hat, die im Bericht angegebenen Informationen in einen Kontext zu stellen, ist der einzige Unterschied zwischen diesem Dokument und den bisherigen Texten, in denen Sorge über 'die Lage in Ungarn' geäußert wurde, dass es viel länger ist und dafür viel mehr Geld und Energie verschwendet wurde. ... Der Bericht erwähnt manche relativ bekannte Sauereien, aber das trägt nicht zum Verständnis der 'illiberalen Verfassungsordnung' bei. So kann der Fidesz nicht ganz unbegründet schreien, was das wieder für eine politisch motivierte Flickarbeit sei.“
Berechtigte Rüge für Spaniens Parteien
Die EU kritisiert völlig zu Recht, wie die großen Parteien Spaniens die Demokratie beschädigen, meint El País:
„Der europäische Bericht hat zwar keine Mängel im spanischen Rechtssystem festgestellt, aber hervorgehoben, wie schlecht die Parteien ihre Verantwortung gegenüber den Institutionen ausüben. Trotz Einhaltung aller Regeln: Dass die [sozialistische] Regierung eine Justizministerin aus dem jüngsten Kabinett zur Oberstaatsanwältin macht, trägt nicht zur Stärkung der Gewaltenteilung bei. Und dass sich die [konservative] Volkspartei weigert, ihre in der Verfassung vorgeschriebene Pflicht zu erfüllen, den Richterrat zu erneuern, fällt ebenfalls in die Kategorie parteipolitischen Missbrauchs. Und wieder einmal war es Europa, das auf diesen Missstand hinweisen musste, der das gesamte System aushöhlen könnte.“
Brüssel entscheidet mal so und mal so
In ihrem Bericht bemängelt die EU erhebliche rechtsstaatliche Defizite in Bulgarien. Im Monitoring-Bericht des Vorjahres war noch alles in Butter, wundert sich Sega:
„Letztes Jahr, fast zur gleichen Zeit, gab die EU-Kommission bekannt, dass Bulgarien seinen Verpflichtungen zur unabhängigen Justiz, zur Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene und zur Eindämmung des organisierten Verbrechens nachgekommen sei, und diese Woche heißt es nun, dass die Rechtsstaatlichkeit nicht funktioniere. Zwar bezieht sich der erste Befund auf den alten Kooperations- und Kontrollmechanismus und der zweite auf den brandneuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Aber [das] interessiert höchstens die Archivare. ... Für die Leser in Bulgarien zeigt es, dass man sich auf Brüssel nicht verlassen kann.“
Wenig edle Beweggründe
Hinter der Bindung der EU-Fonds an die Rechtsstaatlichkeit stecken vor allem die Sparsamen Vier, unkt Brüssel-Korrespondent Andrea Bonanni in La Repubblica:
„Sozialdemokraten, Volkspartei, Grüne und Liberale haben gefordert, die Fondsgelder wieder an Bedingungen zu knüpfen, um die Achtung der Grundwerte zu verteidigen. Eine sehr edle Sache. Die sich aber zufälligerweise sofort die Sparsamen Vier auf die Fahne geschrieben haben, die gegen jede europäische Solidarität, aber fest entschlossen sind, alle anderen Werte zu verteidigen, auf denen die Union beruht. In Wirklichkeit haben die Niederländer, die Österreicher und Co. in der Kontroverse im Parlament eine Möglichkeit gesehen, den Stapellauf des Haushalts 2021-2027 zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Und mit ihm den Start des Wiederaufbaufonds. ... Zum x-ten Mal ist Europa Geisel der Einstimmigkeitsregel.“