Nach Flugzeugkaperung: Wie weiter mit Belarus?
Die EU hat nach der erzwungenen Zwischenlandung einer Ryanair-Maschine in Minsk ihren Luftraum für belarusische Airlines gesperrt und weitere Sanktionen gegen Einzelpersonen verhängt. Der Flieger von Athen nach Vilnius musste offiziell wegen einer Bombendrohung anhalten, dann aber wurde der Oppositionelle Pratasewitsch verhaftet, der sich an Bord befunden hatte. Europas Presse fordert weitergehende Schritte.
So wird das nichts mit der Glaubwürdigkeit der EU
Noch immer starten und landen belarusische Flugzeuge auf europäischen Flughäfen, empört sich Corriere della Sera über die Inkonsequenz der EU:
„Nach Lukaschenkas Akt der Piraterie hatten die EU-Staats- und Regierungschefs mit einer 'No-Fly Zone' gedroht. Tatsächlich? Bisher gibt es lediglich eine unverbindliche Aufforderung an europäische Fluggesellschaften, Belarus nicht zu überfliegen und die (erklärte) Absicht, belarusische Unternehmen in der Union zu blockieren. Aber nichts ist in Stein gemeißelt. Man stelle sich vor, wie das Weiße Haus reagiert hätte, wenn ein Regime aus Lateinamerika den Flug einer US-Fluggesellschaft entführt hätte. Entweder man hat geopolitische Glaubwürdigkeit, oder man muss viel härter daran arbeiten, sie aufzubauen, als es die EU gerade tut.“
Diese Sanktionen jucken Lukaschenka nicht
Auch Eesti Päevaleht ist mit den bisherigen Sanktionen nicht zufrieden:
„Die Flugisolation ist etwas zahnlos. Warum sollte sich Lukaschenka darum kümmern, der Belarus ohnehin Richtung Westen abgeschottet hat? Je weniger Kontakte es gibt, desto geringer ist das Interesse dafür, mit welcher Grausamkeit der belarusische KGB die Lukaschenka-Gegner verfolgt. ... Der Fortbestand des Regimes beruht auf Sicherheitsorganen, die aus der Staatskasse üppig finanziert werden. Diese Ressourcen kann man ausquetschen. Zwei große staatliche Firmen - der Düngemittelproduzent Belaruskali und die Erdölfirma Belnaftachim - bringen dem Regime jährlich hunderte Millionen Euros ein, auf der Sanktionsliste findet man sie aber noch nicht.“
Der Verräter saß im Cockpit
Der Pilot der in Minsk zur Landung gezwungenen Maschine ist gekauft worden, fürchtet Alfred Koch, ehemaliger russischer Vize-Premier unter Boris Jelzin, auf gordonua.com:
„Wenn ich Ermittler wäre, der den Vorfall am Himmel über Belarus bearbeiten würde, würde ich als erstes über den Piloten von Ryanair nachdenken. Zu einhundert Prozent hat er Geld genommen und 'Instruktionen ausgeführt'. ... Der Pilot hat vorab alles gewusst und Pratasewitsch gegen Geld ausgeliefert. “
Wieder mal zahnlos
Kathimerini zeigt sich desillusioniert:
„Europa verhängte eine Reihe von Sanktionen - aber sicherlich keine, die es ermöglichen, den isolierten Diktator von Minsk zu erschrecken. Es stellt sich die Frage, worauf Europa genau wartet - in einer Zeit, in der viele Kräfte am Rande Europas entweder den Status quo in Frage stellen oder ihn sogar aggressiv verändern wollen. Auf die transatlantische Kavallerie? Uncle Sam? Diese Sichtweisen sind nicht nur veraltet, sondern weisen möglicherweise auf die wahre Größe Europas hin. Ein Europa, das selbst jemand wie Lukaschenka gerne ignoriert.“
So weit es geht isolieren
Népszava schlägt konkrete weitere Schritte gegen Lukaschenka vor:
„Der Rest der Welt soll jetzt beweisen, dass der Preis der Verletzung der gemeinsam bestimmten internationalen Regeln höher ist als der erwartete Gewinn. Dafür reichen symbolische Schritte schon lange nicht mehr aus. ... Belarus muss von allen Veranstaltungen mit Prestige ausgeschlossen werden; als erstes von den Olympischen Spielen in Tokio. ... Die Botschafter des Regimes müssen ausgewiesen werden, und das Mindestmaß an Beziehungen, das danach noch übrig bleibt, sollte man ausschließlich für die Rettung von Pratasewitsch nutzen.“
Die Sanktionsschraube nicht zu fest anziehen
An die Verantwortung der EU gegenüber der Bevölkerung in Belarus erinnert Die Presse:
„Sanktionen wirken prophylaktisch. Die EU tat gut daran, nicht auf die Zauderer zu hören. Nun muss sie sich aber vor jenen Ratgebern hüten, die die Sanktionsschraube bis zum Anschlag anziehen wollen. ... Die EU darf es sich nicht leisten, einen direkten Angreifer auf ihre Interessen ungeschoren davonkommen zu lassen. Sie darf aber zugleich nicht vergessen, dass sie für jene Menschen, die das geopolitische Pech haben, mit Lukaschenko in einem Land eingesperrt zu sein, das Paradies auf Erden darstellt. Eine normative Großmacht zu sein ist nicht leicht. Die EU muss das erst lernen.“
Letztlich Zeichen der Schwäche gegenüber Moskau
Die fehlende Härte der EU gegenüber Moskau hat Lukaschenka angestachelt, glaubt Le Vif/L'Express:
„Das Umleiten eines europäischen Linienflugzeugs und das Kidnapping eines in Litauen und Polen exilierten Oppositionellen zeugt von einem gewissen Wagemut seitens des belarussischen Präsidenten. … Diese Haltung lässt sich wohl durch das Gefühl der Straflosigkeit erklären, das der Diktator aus Minsk empfinden konnte angesichts dessen, dass die Europäer in den vergangenen Jahren nur mit sehr maßvollen Sanktionen auf die Umtriebe außerhalb Russlands reagiert haben, die sich sein 'Freund' Wladimir Putin geleistet hat. … Die 'Machtdemonstration' der Europäischen Union gegenüber Belarus belegt indirekt ihre Schwäche gegenüber Russland.“
Warnung der Osteuropäer nicht ernst genommen
Westeuropas Überraschung über den Vorfall ist eigentlich nicht nachzuvollziehen, ergänzt der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:
„Der Westen, der ebenso 'fortschrittlich' wie feige und arrogant ist, hat nicht auf die baltischen, polnischen, tschechischen und slowakischen Politiker gehört, nicht auf die Ukrainer, die fälschlicherweise in der Nato außen vor gelassen werden, und auch nicht auf die Opposition in Belarus. Denn geimpft mit einer 100-jährigen Erfahrung mit dem Bolschewismus wissen die Osteuropäer alles über Kommunismus, Faschismus und östliche Tyranneien. … So muss man nicht fragen, ob es einen nächsten Akt von Barbarei und Staatsterror geben wird, sondern wo, welche Journalisten man entführen und foltern, welche freie Presse in die Knie zwingen und welche Dissidenten und Blogger man schlagen und töten wird.“
Das sollte erst der Anfang sein
Die internationale Gemeinschaft muss nun noch viel weiter gehen, appelliert Õhtuleht:
„Vielleicht sollte man auch jeglichen Transit durch Belarus beenden, wie Präsidentin Kaljulaid vorschlägt. Bis jetzt waren die Sanktionen nicht überzeugend. Die Sperrung des Luftraums von Belarus sollte erst der Anfang sein. Das Arsenal der möglichen Einflussmittel ist viel breiter, angefangen bei der Ausweisung von Diplomaten, über Wirtschaftssanktionen bis hin zum Ausschluss des Landes von Sport- und anderen Veranstaltungen.“
Beweis, dass WM-Boykott richtig war
Ähnliches über Sanktionen liest man bei Novinky.cz:
„Natürlich kann die EU Lukaschenka nicht zwingen, zurückzutreten oder die umstrittene Präsidentschaftswahl des letzten Jahres zu wiederholen. Die Unterstützung für dortige Dissidenten muss jedoch größer sein, und auf Worte müssen Maßnahmen folgen. ... Die Entführung hat gezeigt, dass es gut war, dass die Eishockey-Weltmeisterschaft derzeit nicht in Belarus stattfindet. Dass sie dem Land entzogen wurde, liegt auch an der Drohung von Hauptsponsor Škoda Auto, die Unterstützung der Meisterschaft einzustellen, sollte sie in Minsk ausgetragen werden. ... Wenn wir Diktatoren nur kritisieren und weiterhin mit ihnen handeln, werden sie uns nicht ernst nehmen.“
Soft Power ist keine Power
Dissidenten sind und bleiben wehrlos, stellt Volkskrant-Kolumnistin Sheila Sitalsing fest:
„So fliegt man also durch die Union des Friedens, der Sicherheit und der Diplomatie der sanften Kräfte. Und dann schlägt der irre Diktator zu, dessen Zorn man gerade entkommen war, während der ganze Kontinent händeringend zuschaut. Soviel über die Macht von Soft Power. Dissidenten müssen immer auf der Hut sein, selbst wenn sie einen sicheren Flüchtlingsstatus haben. ... Autokratie macht an Landesgrenzen nicht halt.“
Kalter Krieg hat begonnen
Vilnius, das zur Hochburg der belarusischen Regimekritiker geworden ist, muss nun verstärkt mit Angriffen Minsks rechnen, glaubt Politologe Gintautas Mažeikis auf Lrt:
„Die Zeit, als man den sich verschärfenden bilateralen Konflikt noch lösen konnte, ist nun vorbei. Mit dem Erobern des Flugzeugs startet ein kalter Krieg, ganz, wie es im Lehrbuch steht. Der nächste Schritt: ein aktives Vorgehen Minsks gegen Tichanowskaja und ihre Mitstreiter in Vilnius. ... Das terroristische Regime plant, Litauen auf verschiedenen Weise zu attackieren: mit wirtschaftlichen Sanktionen, nuklearer Erpressung (AKW in Ostrowez), Spionage, Cyber-Attacken, Unterstützung für unfreundliche Aktionen des Kremls, Vorbereitung für den 'heißen' Krieg gegen Litauen und militärischer Aufrüstung.“
Leider kein neuer Kalter Krieg
Die westlichen Medien, die so gerne von einem neuen Kalten Krieg sprechen, liegen vollkommen daneben, meint Russland-Expertin Anna Zafesova in La Stampa:
„Im Kalten Krieg gab es Regeln, die von beiden Seiten akribisch ausgearbeitet wurden, um das Schlimmste zu verhindern. … Bei der Entführung von Raman Pratasewitsch samt einer ganzen Ryanair-Maschine hat es die Welt hingegen mit einem Diktator zu tun, der Regeln weder anstrebt noch akzeptiert. ... Er sucht nicht den Dialog, sondern die Konfrontation. Er verhält sich, als gäbe es keine internationalen Verträge, Konventionen, Gerichte und Verpflichtungen.“
Europa sollte nicht den ersten Stein werfen
Lukaschenkas Vorgehen ist westlichen Ländern nicht fremd, erinnert To Vima:
„Im Jahr 2013 schlossen Frankreich, Spanien und Portugal ihren Luftraum für ein Flugzeug mit dem damaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales an Bord und zwangen es, in Österreich zu landen, um zu sehen, ob Edward Snowden an Bord war - der Mann, der einige Geheimnisse der amerikanischen Dienste enthüllte. Ganz zu schweigen von einer Reihe klar illegaler Praktiken von Ländern wie den USA, wenn sie zum Beispiel von sich aus beschließen, verschiedene Terroristen ohne Verhaftung und ordentliches Gerichtsverfahren hinzurichten.“