Kachowka: Wer ist für die Katastrophe verantwortlich?
Die Zerstörung des Staudamms Kachowka am Dnipro hat in der Ukraine riesige Landflächen überflutet und Tausende Menschen ihrer Existenz beraubt. Viele haben sich auf Hausdächer gerettet und warten auf ihre Evakuierung. Die Sorge vor dramatischen Auswirkungen auf Umwelt, Trinkwasserversorgung, Landwirtschaft und die nötige Kühlung des AKW Saporischschja wächst. Inzwischen geht die Suche nach Verursachern und Motiven weiter.
Es war Rache
Die Menschenrechtlerin Olha Reschetilowa sieht in Gordonua.com ein klares Motiv für die Zerstörung:
„Plötzlich, inmitten all der Spekulationen von Experten und Pseudo-Experten, hatte ich eine sehr klare und deutliche Erkenntnis: Es war Rache. Die übliche blutige Rache an der Region Cherson, die sich in den Monaten der Besetzung nicht unterworfen hatte. ... Ich glaube nicht an irgendwelche Exzesse. Ich glaube nicht, dass irgendetwas schiefgelaufen ist. Es ist genau das passiert, was sie geplant hatten. Nämlich das zu zerstören, was man nicht erobern konnte.“
Wenn Russland dazu fähig ist...
Putin überschreitet immer neue Grenzen, sorgt sich Wprost:
„Der Nowaja-Kachowka-Staudamm war schon lange vermint, aber alle sahen darin eher eine Machtdemonstration, eine emotionale Erpressung und einen weiteren Versuch, nicht nur die Ukraine, sondern auch den sie unterstützenden Westen einzuschüchtern. In ähnlicher Weise wird seit Langem darüber diskutiert, ob Putin Atomwaffen einsetzen könnte, da ihm fast jedes Mittel recht ist. Aber auch hier hieß es 'nein, das wird er sicher nicht tun', denn der Westen hat Konsequenzen für eine solche Situation angekündigt (genauso wie im Falle des Einsatzes von Chemiewaffen). Dennoch scheint heute die Überzeugung 'Nein, das wird Putin sicher nicht tun' zunehmend riskanter zu sein.“
Die Wahrheit wird nie ans Licht kommen
Die Wahrheit über die Kriegsereignisse ist zu einer Glaubensfrage geworden, meint die regierungsnahe Magyar Nemzet:
„Da es niemals Beweise dafür geben wird, wer den Staudamm oder die Gaspipeline gesprengt hat - oder falls doch, können diese immer als unglaubwürdig und gefälscht bezeichnet werden - müssen wir akzeptieren, dass wir von den Kennern der Kriegsgeheimnisse an der Nase herumgeführt werden. Wir können entscheiden, ob wir glauben, dass die Ukraine gut und Russland schlecht ist, oder umgekehrt. ... In der Zwischenzeit sterben jeden Tag sehr viele Menschen.“
Die Katastrophe betrifft alle
La Repubblica beschreibt verheerende Verschmutzungen:
„Die Umweltkatastrophe wird nicht nur ukrainisch sein. ... Ein riesiges Gebiet südlich des gesprengten Staudamms ist immer noch vom Dnipro überflutet und saugt sich mit Benzin, Dieselöl, Pestiziden und Gleitmitteln voll, die die Flut mit sich gerissen hat, als sie in Treibstoffdepots und -verteiler, Chemie- und Waffenlager eindrang. Diese Masse bewegt sich aufs Meer zu. ... Und niemand kann etwas dagegen tun. Das Schwarze Meer ist vermint. ... Die großen Ölteppiche, die sich bilden werden, sind normalerweise eindämmbar und absorbierbar, aber nicht dort - wegen des Risikos ständiger Explosionen. Es besteht die Gefahr der Verschmutzung der türkischen und europäischen Küsten. Die Folgen des Krieges werden sich wie Pech verbreiten.“
Eine neue Dimension
Radio Kommersant FM befürchtet, dass auch das Atomkraftwerk am Kachowka-Stausee in Mitleidenschaft gezogen wird:
„Wie der deutsche Bundeskanzler sagte: Die Zerstörung des Kachowka-Wasserkraftwerks gibt dem Konflikt eine neue Dimension. ... Es liegt nahe, dass die nächste, noch gefährlichere Ebene das Atomkraftwerk Saporischschja sein wird, das in letzter Zeit etwas im Schatten stand. Aber jetzt ist es wieder Nachrichtenthema - und leider keineswegs positiv besetzt. Man braucht gar nicht die Maßstäbe des möglichen Geschehens zu beschreiben - sie sind auch so klar. Dagegen kann die Katastrophe, die jetzt abläuft, nur wie ein leichtes Aufwärmprogramm erscheinen.“
Der Schuldige ist bekannt
Es ist schwierig, die Frage der Verantwortlichkeit für die Zerstörung zu klären, merkt Novinky.cz an:
„Aber das ist nicht so wichtig. Wenn Russland letztes Jahr nicht in die Ukraine einmarschiert wäre, stünde nicht nur der Damm, sondern auch tausende zerstörte Häuser, das größte Frachtflugzeug der Welt, 'Mrija', würde fliegen und wir hätten nicht mehrere Hunderttausend Kriegsflüchtlinge in der Tschechischen Republik. UN-Generalsekretär António Guterres brachte es auf den Punkt: 'Eines ist klar – dies ist eine weitere verheerende Folge der russischen Invasion in der Ukraine.' Unter diesem Gesichtspunkt ist der Schuldige bekannt.“
Ins eigene Knie geschossen
Den Staudamm zu sprengen war ein strategischer Fehler der Russen, meint Večernji list:
„Sie haben nicht damit gerechnet dass, wenn sich der Dnipro beruhigt und sein neues Flussbett annimmt, der Fluss wahrscheinlich schmaler wird und somit leichter von ukrainischen Truppen zu überqueren. Außerdem hat die Überschwemmung die ganze vordere Linie der russischen Befestigungen, Schützengräben und Minen weggespült. ... Dazu bleibt die trockene Krim vor dem Sommer ohne das Trinkwasser des Dnipro, da nun auch der Kanal, durch den das Wasser kam, unbrauchbar geworden ist. In diesem Krieg gab es schon Schäden ungeheuren Ausmaßes, doch die Ukrainer haben bewiesen, dass sie das nicht von der Befreiung ihres Territoriums abhalten wird.“
Anzeichen für umfassende Bedrohungen
Naftemporiki warnt vor einer weiteren Eskalation:
„Die Sprengung des Staudamms markiert im Grunde das Ende der Illusion, dass Kriege mit ehrlichen Mitteln geführt werden sollten, und rückt die Bedrohung durch einen totalen Krieg wieder in den Vordergrund, die die Menschheit während des Zweiten Weltkriegs schmerzlich erfahren hat. Der Konflikt in der Ukraine hat dieses Niveau noch nicht erreicht, aber die Anzeichen sind besorgniserregend: Die Angriffe auf russisches Territorium haben Moskau alarmiert, aber auch den Westen, der befürchtet, dass die militärische Ausrüstung, die er Kyjiw liefert, dafür verwendet werden könnte. ... Putins Antwort ist klar: Ein Angriff mit Nato-Waffen auf Russland bedeutet einen Angriff der Nato.“
Ein weiterer Fall für Den Haag
Für The Times ist die Handschrift Putins zu erkennen :
„Wladimir Putins Regime hat seit Beginn des Angriffskrieges gegen Kyjiw im Februar letzten Jahres gezielt die Zivilbevölkerung und deren Infrastruktur ins Visier genommen. Auch wenn verlässliche Informationen noch fehlen, entspricht die Sprengung des Damms der russischen Strategie, in diesem Fall ohne Rücksicht auf die Gefahr für Zivilisten in den Dörfern und Städten am Ufer des Dnipro, eine Überquerung des Flusses durch die Ukrainer zu verhindern. Die Bombardierung und daraus resultierenden Überschwemmungen bilden die ernüchternde Kulisse für das Verfahren, das gestern vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag begann und in dem die Ukraine Russland beschuldigt, ein Terrorstaat zu sein.“
Taktik der überschwemmten Erde
Wenn der Dammbruch russische Taktik war, dann ist sie wenig erfolgversprechend, erläutert Le Figaro:
„Die Zerstörung wird negative Auswirkungen für beide Lager haben: auf die Zivilbevölkerung und den Start der Gegenoffensive auf ukrainischer Seite, auf die Wasserversorgung der Krim und die Stärke der Verteidigungslinien auf russischer Seite. … Für die Taktik der verbrannten Erde gibt es in dieser Gegend bereits zahlreiche Vorläufer, die der überschwemmten Erde ist nur eine Variante davon. Sie weist darauf hin, dass die Kriegführenden vor keiner Eskalation zurückweichen, um den Feind zu besiegen. Doch die Russen sollten wissen, dass diese Strategie stets mit der Niederlage des Angreifers endet.“
Minenräumung um Saporischschja priorisieren
Bedrohlich ist die Situation um das Atomkraftwerk Saporischschja aktuell nicht, aber eine Frage muss zeitnah geklärt werden, meint die Atomexpertin Olga Koscharna in NV:
„Die Kraftwerksblöcke sind seit September 2022 abgeschaltet. Daher benötigen sie weniger Wasser zur Kühlung als bei voller Auslastung der Anlage. Es bestehen also Risiken, aber die Situation ist derzeit stabil. Zudem wurden nach dem Unfall in Fukushima mobile Pumpeinheiten mit bis zu 2 km langen Schläuchen auf dem Gelände des AKW installiert. ... Das Problem ist jedoch, dass die russischen Besatzer das Ufer und das Gebiet um das Kraftwerk vermint haben. Ich hoffe, man hat es geschafft, die Minen auf Karten festzuhalten. Um diese mobilen Pumpeinheiten an das Dnipro-Ufer zu bringen, muss das Gebiet von Minen befreit werden.“
Propagandakrieg um Verantwortung
Beide Kriegsparteien könnten einen Vorteil aus der Sprengung ziehen, analysieren die Oberösterreichischen Nachrichten:
„Vorerst wissen wir nur, dass der Staudamm kaputt ist. Aber dann beginnt auch schon die Propaganda. Und wie immer in diesem Krieg will niemand die Verantwortung übernehmen. Um die Wahrheit zu finden, hilft also nur, mit Plausibilitäten zu arbeiten. Russland beispielsweise hätte den Vorteil, dass die Ukraine jetzt mit der Beseitigung der Schäden beschäftigt ist und ihre Großoffensive verschieben muss. Die Ukraine wiederum kann sich darüber freuen, dass nun die Trinkwasserversorgung der besetzten Krim gefährdet ist, was für den Kreml eine empfindliche Niederlage darstellt.“
Wassermassen sind der bessere Abwehrriegel
Politologe Abbas Galliamow wittert in einem von Echo übernommenen Telegram-Post eine bewusste Vernichtung untauglicher Abwehrstellungen:
„Wenn diese Befestigungen in etwa die gleiche Qualität hatten wie die, durch die das Russische Freiwilligenkorps und die Legion Freies Russland in Belgorod wie ein Messer durch Butter gehen, dann ist es eine heilige Sache, sie zu fluten. Um sich nicht zu blamieren. ... Wenn das Wasser zurückgegangen ist, können sich Putins Generäle gefahrlos zurückziehen, denn gegen den Zorn ihrer Vorgesetzten haben sie nun ein Alibi: Natürlich wären wir nicht gegangen, aber der verdammte Dnjepr hat alle unsere ausgeklügelten Befestigungen zerstört. Sonst doch nie! ... Und das Wasser ist, zumindest vorläufig, die beste Barriere gegen einen vorrückenden Feind.“
Aus dem Ruder gelaufen?
Onet wundert sich über das Informationschaos auf russischer Seite:
„Auf den ersten Blick erschien das Ganze wie ein Versuch der Russen, die operative Initiative zu ergreifen. In der Nacht griffen russische Raketen Kyjiw und Charkiw an. Am Morgen warnte der [Geheimdienst] FSB vor angeblichen ukrainischen Plänen zum Einsatz einer schmutzigen Bombe. Die Sprengung des Staudamms könnte somit Teil einer größeren Operation sein. Allerdings war die russische Darstellung von Anfang an chaotisch, was darauf hindeutet, dass die Russen von den Ereignissen überrascht wurden. ... Das könnte darauf hinweisen, dass die Russen im Rahmen eines 'Präzisionsschlags' nur einen Teil des Damms sprengen wollten, um die Inseln an der Dnipro-Mündung zu fluten, wo ukrainische Truppen stationiert sind - und am Ende lief es wie immer.“