Corona-Hilfen ohne Polen und Ungarn?
Im Streit um den Rechtsstaatsmechanismus der EU haben sich Ungarn und Polen gegenseitig in ihrer Haltung bestärkt. Sie regten zudem an, den Mechanismus im Europäischen Rat erneut zu diskutieren, was Brüssel umgehend ablehnte. Zuvor hatten EU-Parlamentarier vorgeschlagen, das Veto der beiden Länder über den Weg der "verstärkten Zusammenarbeit" zu umgehen, um die Corona-Hilfen schnell auszahlen zu können.
Gelder an Budapest vorbeischleusen
Die EU muss verhindern, dass Viktór Orbán sich und die Seinen weiter auf Kosten der Bevölkerung bereichert, drängt der ungarischstämmige US-Milliardär George Soros in einem von Project Syndicate übernommenen Text in Les Echos:
„Es ist nicht so sehr das abstrakte Konzept des Rechtsstaats, dem sich Viktor Orbán und Polens faktischer Regierender Jarosław Kaczyński entgegenstellen. ... Was ihnen missfällt, ist eher die Tatsache, dass der Rechtsstaat eine praktische Grenze für ihre Manöver persönlicher und politischer Korruption darstellt. … Nur die EU kann dem Land [Ungarn] helfen. Die EU-Gelder könnten beispielsweise an die lokalen Behörden ausgezahlt werden, denn dort funktioniert in Ungarn die Demokratie noch im Gegensatz zu dem, was auf nationaler Ebene passiert. Die EU kann es sich nicht erlauben, bei den Regeln zur Rechtsstaatlichkeit nachzugeben.“
Brexit-Wunde nicht wieder aufreißen
Club Z warnt vor einem Corona-Fonds ohne Polen und Ungarn:
„[Da] jede Verwendung der zwischenstaatlichen Methode anstelle der Gemeinschaftsmethode die Frage aufwirft: Was bedeutet diese Union für uns, wenn die wichtigsten Vereinbarungen zwischen ihren Mitgliedern außerhalb ihres Vertragsrahmens stattfinden müssen? … Diejenigen, die von der Illusion einer kleineren, nach ihren Vorstellungen maßgeschneiderten EU träumen, scheinen noch nicht erkannt zu haben, dass der Brexit keine Phase, sondern eine offene Wunde ist, die die EU kurieren und nicht wieder aufreißen sollte.“
Es gibt keinen Schritt zurück
WPolityce.pl lobt die gemeinsame Position Orbáns und Morawieckis:
„Das Wichtigste ist die Botschaft der Einheit und Solidarität. ... Es ist eine Erklärung, die eindeutiger nicht sein könnte. Sie sagt: Ihr werdet uns nicht teilen, ihr werdet uns nicht ausspielen, ihr werdet uns nicht isolieren, ihr werdet uns nicht bestechen können. Sie ist aber auch ein Signal an alle Politiker und Beamten in Polen und Ungarn: Es wird keinen Frieden ohne den jeweils anderen geben. Die gemeinsame Erklärung der Premiers Orbán und Morawiecki stärkt die Position der beiden Länder. Sie erhöht die Gewinnchancen. ... Da wir bereits ein Veto eingelegt haben, können wir uns nicht mit einem weiteren Trick von Berlin und Brüssel zufrieden geben.“
Und Rumänien kommt davon
Krónika wirft der EU Doppelmoral vor:
„Bezüglich der Rechtsstaatlichkeit könnte man nach einer kurzen Untersuchung in jedem EU-Mitgliedstaat Einwände finden, wenn die detaillierten Voraussetzungen bekannt wären. ... Wenn man in Rumänien lebt, muss man jedoch nicht unbedingt ein Experte für Außenpolitik sein, um mit gesundem Menschenverstand die offenkundige Doppelmoral zu bemerken. Seit Jahren wird Ungarn vor allem die Verletzung der Unabhängigkeit der Justiz und die Lage der Medien vorgeworfen. Da bei der aktuellen rituellen Anprangerung niemand von Rumänien spricht, muss man davon ausgehen, dass Brüssel die Situation in Rumänien für adäquat hält.“
Milošević lässt grüßen
Das Verhalten der EU gegenüber Polen und Ungarn ist völlig unangemessen, schreibt der Journalist Gašper Blažič in der rechtskonservativen Wochenzeitung Demokracija:
„Wenn ich beobachte, was heute in der Europäischen Union passiert, insbesondere in Bezug auf den Missbrauch des Ausdrucks 'Rechtsstaatlichkeit', wundere ich mich, wie stark die EU in eine Situation rutscht, die sehr an Slobodan Milošević [und seine Anmaßung, alles aus dem Zentrum bestimmen zu wollen] zur Zeit des Zerfalls Jugoslawiens erinnert. ... 'Rechtsstaatlichkeit' ist zu einer Ausrede geworden, um bestimmte Länder zu kontrollieren. ... So verliert der Begriff seine Bedeutung und wird zum Gegenteil.“
Eine gute Ausrede für die 'Sparsamen'
Das polnisch-ungarische Veto spielt in die Hände der EU-Mitgliedstaaten, die von der Idee der gemeinsamen Verschuldung Europas ohnehin nicht begeistert sind, glaubt Magyar Hírlap:
„Die Regierungen der sogenannten Sparsamen Vier mit dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte an der Spitze können sich jetzt freilich heimlich freuen, da sie sich eigentlich nie eine gemeinsame Verschuldung und ein größeres EU-Budget gewünscht haben. Zu meckern, um zu sparen, würde jedoch in solchen Zeiten unsympathisch erscheinen. Da ist es viel besser, die barbarischen 'Feinde der Rechtsstaatlichkeit' [für die Uneinigkeit] verantwortlich machen zu können.“
Nicht länger reden, Geldhahn abdrehen!
Es hätte längst klar sein müssen, dass Polen und Ungarn vom Rettungsplan auszuschließen sind, schreibt der Historiker Rui Tavares in Público:
„Es gibt nur einen Weg. Nicht nachgeben, keine Bereitschaft zeigen, den Sanierungsfonds neu zu formulieren, und ihn ohne Beteiligung Polens und Ungarns in die Praxis umsetzen, damit beide Regierungen die Botschaft erhalten, dass es kein Geld gibt, wenn Legalität und Rechtsstaatlichkeit nicht respektiert werden. Ich habe diese Lösung vor sechs Monaten vorgeschlagen. Aber die Pragmatiker entschieden sich erneut dafür, naiv zu sein - und wir haben wieder wertvolle Zeit verloren. Was uns bleibt, ist der Realismus der Idealisten.“
Nach dem Veto könnte der Polexit kommen
Die in Warschau lebende Journalistin Olena Babakova macht in Ukrajinska Prawda Anzeichen für eine noch größere Distanzierung Polens von Europa aus:
„Ist das Szenario eines Austritts Polens aus der EU denkbar? Auf den ersten Blick erscheint das als völliger Unsinn. Die polnischen Machthaber haben indes Schritte in diese Richtung eingeleitet. ... Schon vor dem Veto unternahm die Regierung einen neuen Propagandafeldzug, um zu beweisen, dass man der Europäischen Union mehr gibt, als man von ihr erhält. ... Weil sie ein weiteres Absinken in den Umfragen verhindern möchte, beginnt die PiS nun aktiv, über die Zweckmäßigkeit einer polnischen EU-Mitgliedschaft insgesamt zu spekulieren.“
Ungarn und Polen haben nichts mehr zu Lachen
Dass die EU bislang gegenüber Warschau und Budapest hart geblieben ist, lobt der Abgeordnete der nationalliberalen PNL, Ovidiu Alexandru Raețchi, in Ziare:
„Wir wohnen dem Moment bei, in dem die EU, die von einer liberal-progressiven französisch-deutschen Allianz angeführt wird, beginnt, endlich Maßnahmen gegen die konservativ-autoritären Fehltritte in Polen und Ungarn zu ergreifen. Die Verfehlungen wurden viel zu lange toleriert, das hat zu einem totalen Verlust des ideologischen Urteilsvermögens geführt. ... Der politische Kontext ist günstig und es ist klar, dass Macron und Merkel große Anstrengungen unternehmen werden, denn das Prinzip der 'Nichteinmischung in innere Angelegenheiten' hat in einem Europa der demokratischen und freiheitlichen Werte kategorisch seine Grenzen. So sollte es auch sein.“
Union stärkt ihr Profil
Für Kaleva ist noch nicht klar, wer aus diesem Streit als Profiteur hervorgeht:
„Es wird sich zeigen, wie weit Polen und Ungarn bereit sind, die Geduld der Übrigen auf die Probe zu stellen. Sowohl in Ungarn als auch in Polen genießt die EU bei den Bürgern hohes Ansehen. Allerdings sind die Zivilgesellschaften dieser Länder schwach und sie wurden noch weiter geschwächt. Andererseits könnte aber die Rechtsstaatlichkeitsdebatte das Wesen der EU stärken und die Zeit könnte für die Verteidigung ihrer Werte und Arbeitsweisen arbeiten.“
Die Großen wollen unter sich sein
Für einige in der EU kommt der Streit nicht ungelegen, mutmaßt Novi List:
„Egal, was man von der ungarischen oder polnischen Regierung denkt, es ist offensichtlich, dass die alten und reichen EU-Mitgliedstaaten versuchen, den Mechanismus der Rechtsstaatlichkeit zu einer Veränderung der Art, wie Entscheidungen in der EU getroffen werden, zu nutzen. Man möchte das einstimmige Entscheiden begrenzen und die Tür öffnen für das Überstimmen, für Entscheidungsfindung mit qualifizierter Mehrheit, um die EU effizienter zu machen. ... Es ist offensichtlich, dass die stärksten EU-Mitglieder wie Frankreich, Holland und Deutschland die Krise nutzen wollen, um eine Koalition von Ländern zu schaffen, die eine neue Stufe der Integration innerhalb der EU wollen, wobei Länder wie Polen und Ungarn auf dem Nebengleis stehen bleiben.“
Ein Veto, das sich lohnt
Warum die Regierungschefs von Polen und Ungarn auf EU-Gelder verzichten würden, erklärt Új Szó:
„Gegen die beiden Länder findet gerade ein Vertragsverletzungsverfahren statt, bei dem jedoch die Zustimmung aller Mitgliedstaaten nötig ist, so dass die beiden einander aus der Patsche helfen können. Beim neuen Rechtsstaatsmechanismus reicht eine qualifizierte Mehrheit aus, um Sanktionen zu verhängen. Da hier kein einstimmiges Votum erforderlich ist, haben Budapest und Warschau keine Chance, Verfahren zu blockieren. Gerade deswegen ist der Rechtsstaatsmechanismus aus Sicht der beiden souveränistischen Regierungen lebensgefährlich.“
EU-Liebe der Polen könnte erkalten
Der Chefredakteur von Rzeczpospolita, Bogusław Chrabota, warnt vor einer Meinungskampagne gegen die EU in Polen:
„Die Polen lieben die Europäische Union immer noch. ... Wenn wir gefragt werden, wie wir bei einem Referendum über den Austritt Polens aus der EU abstimmen würden, sagen 81 Prozent von uns, sie würden für den Verbleib stimmen. Gut jeder zehnte - 11 Prozent der Befragten - sagt, dass er dagegen stimmen würde. ... Ich fürchte etwas anderes als den Verlust von Geldern: den Mediensturm, der in Polen gerade ausgelöst wird und sich gegen die EU richtet, weil diese Polen angeblich wegen des Vetos tadelt. Danach können ähnliche Umfragen in einigen Monaten völlig anders aussehen.“
Die Blockierer abschütteln
Der liberale EU-Abgeordnete Guy Verhofstadt hat darauf verwiesen, dass die EU die Möglichkeit der Zusammenarbeit einzelner Länder beim Corona-Aufbauplan durchaus vorsehe, angelehnt an das Modell der Zusammenarbeit beim Euro. Der Investor George Soros unterstützt dies in El País:
„Die Bestimmungen zur Rechtsstaatlichkeit sind verabschiedet. Falls es keine Einigung über einen neuen Haushalt gibt, wird der alte Haushalt, der Ende 2020 ausläuft, auf jährlicher Basis verlängert. Ungarn und Polen würden im Rahmen dieses Haushalts keinerlei Zahlungen erhalten, weil sie gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. In ähnlicher Weise könnte der Wiederaufbaufonds mit dem Namen Next Generation EU mittels eines Verfahrens der verstärkten Zusammenarbeit umgesetzt werden, so wie es Guy Verhofstadt vorgeschlagen hat. Schlüge die EU diesen Weg ein, ließe sich das Orbán-Kaczyński-Veto umgehen.“
Endlich wehrt sich jemand gegen Erpressungen
Ria Nowosti freut sich, dass das in der EU lange durchgesetzte Konsensprinzip kippt:
„Der Verdacht hat sich in der Vergangenheit immer weiter erhärtet, dass für das reibungslose Funktionieren des berühmten Konsensprinzips die einflussreicheren EU-Mitglieder hinter verschlossenen Türen zu Zwang, Druck und Erpressungsmethoden gegenüber den 'Juniorpartnern' greifen. Man erinnere sich nur, wie das bei den Russland-Sanktionen war: Gleich mehrere EU-Länder stellten sich offen gegen deren Einführung, weil sie Schaden für ihre Volkswirtschaften bedeuteten. Aber als es ans Entscheiden ging, votierten sie ohne Murren wie alle anderen. Doch jetzt sind da zwei Länder, die dieses System einfach aufbrechen, weil sie stur genug sind, auf ihrer Position zu beharren und sich nicht scheuen, gegen den Strom zu schwimmen.“
Die Front wird bald wackeln
Dass eine kompromisslose Haltung gegenüber Ungarn und Polen lange durchgehalten werden kann, bezweifelt Der Tagesspiegel:
„Polen und Ungarn stehen nicht alleine. Alle zehn Neumitglieder im Osten empfinden das Auftreten der Nordwest-EU als arrogant, oberlehrerhaft und hypermoralisch. Sie sagen: Wir haben den Sturz der kommunistischen Diktaturen erkämpft, voran Polen und Ungarn. Die Gruppe stellt zehn der 27 EU-Mitglieder. ... Den Südländern ist die baldige Auszahlung der Coronahilfe viel wichtiger als die Verknüpfung mit der Rechtsstaatlichkeit. Es wird nicht lange dauern, dann werden sie die Länder im Nordwesten anflehen: Lasst uns nicht leiden unter dem Streit. Findet einen Kompromiss mit den Ländern im Osten.“
Trauriger Abklatsch der Uno
In der EU von heute verhindert eine egoistische Kurzsichtigkeit die Umsetzung von Visionen, kritisiert Yetkin Report:
„Nach der Erweiterung von 2004 ist die EU zu einer kleineren Version der Uno geworden, wo die Mitglieder ihre eigenen kurzfristigen Interessen vertreten und Entscheidungen nur dazu getroffen werden, um einen funktionierenden Binnenmarkt zu sichern, nicht mehr. Zu einer Zeit, in der die EU ihr wirtschaftliches Fundament neu strukturieren will - mit dem Green Deal, mit dem Aufbauplan -, werden wir Zeugen einer jämmerlichen Performance da drüben.“
Erst einmal den Text lesen!
Die von Ungarns Regierung geschürte Angst, dass die EU sie zu einer liberaleren Politik zwingen könne, ist an den Haaren herbeigezogen, kritisiert Azonnali:
„Insgesamt gesehen sind die Kriterien auf jeden Fall konkret genug formuliert, damit keine identitätspolitischen Kämpfe mit ihnen vermischt werden können. Solche Aussagen wie 'Brüssel nimmt uns das Geld weg, weil wir keine Migranten ins Land lassen und den Schwulen die Eheschließung nicht gestatten' werden vermutlich auch in der Zukunft von denen, die der Regierungspartei angehören, zu hören sein, sie sind jedoch ohne jede Grundlage. Denn bei diesem Rechtstaatlichkeitsmechanismus geht es tatsächlich nur um die Verwendung der EU-Gelder.“
So verbaut Orbán die Zukunft
Das Veto liegt nicht in Ungarns Interesse, meint Népszava:
„Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahmen, zu denen die zweite Welle der Pandemie zwingt, sind nicht abzuschätzen. Jedoch gibt es ewige Optimisten, die von einer massenhaften Impfung am Jahresanfang träumen und auf dieser Grundlage auf ein Wirtschaftswachstum von zehn bis 15 Prozent hoffen. Doch dafür wäre auch der erste Teil der EU-Wiederaufbauhilfe nötig, insgesamt 16 Milliarden Euro. ... Inzwischen legt die ungarische Regierung jedoch ein Veto gegen den EU-Haushaltsplan ein, inklusive dem Wiederaufbaufonds namens Next Generation EU. Orbán und sein Umfeld denken nur an sich selbst und nicht an die nächsten Generationen.“
Rechtsbruch mit Ansage
Für das Tageblatt zeigen sich die Absichten von Orbán und Kaczyński in aller Deutlichkeit:
„Die beiden nationalkonservativen Regierungen ... wollen sich künftig nicht mehr an die in der EU geltenden Prinzipien halten und dennoch aus Brüssel Geld kassieren. ... Es zeigt aber auch, dass sie die demokratische Entscheidungsfindung in der EU, und in diesem Fall das Europäische Parlament, nicht mehr respektieren wollen. ... Da dieser [Rechtsstaats-]Mechanismus erst auf kommende Vergehen angewandt werden soll, ist die vehemente Blockadehaltung offenbar ein Eingeständnis dafür, dass Warschau und Budapest Pläne haben, die sich nicht mit den rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien in der EU vereinbaren lassen. Das sieht ziemlich nach staatlich organisiertem Rechtsbruch mit Ansage aus.“
Brüssel sollte die Zügel anziehen
Am Ende werden Polen und Ungarn womöglich doch einlenken, schreibt Pravda:
„Die Union hat es gewagt vorzuschlagen, dass nur diejenigen Länder, die die Regeln einhalten, neue Eurofonds erhalten würden. ... Beide Länder sind jedoch Beispiele dafür, wie man die Regeln nicht einhält. Pressefreiheit, Frauenrechte und anderes sind dort eine Parodie der Werte der EU. ... Es ist vielleicht an der Zeit, dass Brüssel die Zügel anzieht. ... Andererseits sind Budapest und Warschau genau diejenigen, die trotz ihres Schreiens die Millionen aus Brüssel brauchen. So kann früher oder später ein Kompromiss erwartet werden.“
EU verkommt zur Umverteilungsmaschine
Brüssel kann sich nicht dauerhaft Konsens erkaufen, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Der rechtsstaatliche Sonderweg der Regierungsparteien Ungarns und Polens ist ... eine Realität, welche weder der EU-Rat noch das Parlament aus der Welt schaffen können. ... Die letzte Konsequenz dieser Einsicht wäre es, die gewaltigen finanziellen Umverteilungsmechanismen der EU generell zurückzuschrauben. ... Doch die EU macht das Gegenteil. ... [Bei der Schaffung des Corona-Aufbaufonds wurde] die ungelöste Frage der Rechtsstaatlichkeit ... aufgeschoben, im Vertrauen darauf, dass mit dem vielen neuen Geld genügend Verhandlungsmasse bereitstehen wird, die dann irgendeinen Deal ermöglicht. So wird die EU immer mehr zu einer Umverteilungsmaschine, die darauf ausgelegt ist, allein mit ständig wachsenden Finanztransfers Handlungsfähigkeit herzustellen.“
Jetzt rächt sich das Wunschdenken
Die Osterweiterung der EU wurde von so naiven wie eigennützigen Illusionen getragen, mokiert sich Il Manifesto:
„Die erste war, dass die gescheiterten Volksdemokratien nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Lagers nichts lieber täten, als dem demokratischen Modell Nachkriegswesteuropas zu folgen. … Die zweite suggerierte Folgendes: Die ehemals sozialistischen Länder würden so abhängig von Kapital und Industrieverlagerungen westlicher (und insbesondere deutscher) Herkunft sein, dass sie gehorsam und sogar eifrig nicht nur die harten Gesetze des Marktes befolgen, sondern auch die politischen Strukturen der Wirtschaftsmächte des Alten Kontinents nachahmen würden. … Diese nicht uneigennützigen Illusionen haben den Nationalismus, der in den Ländern des aufgelösten Ostblocks latent war und schließlich dominant wurde, unterschätzt.“
Schlag gegen Fundament der EU
Nun rutscht die Union in eine Krise, aus der es keinen Ausweg gibt, fürchtet De Standaard:
„Dass die Regierungen von zwei europäischen Mitgliedsstaaten die 25 anderen erpressen, um für sich selbst politischen Raum zu schaffen, den Rechtsstaat weiter auszuhöhlen, verletzt das Fundament des europäischen Bauwerks. Dass man dafür bei Nacht und Nebel einen Kompromiss finden wird, ist fast undenkbar. ... Das ist kein Streit zwischen einer Handvoll europäischer Führer, den man gemeinsam beilegen kann. Das europäische Parlament, das zustimmen muss, wird sich nicht zermürben lassen. ... Mit ihrer Entscheidung für diese nukleare Option isolieren sich Ungarn und Polen in der Union. Aber sie rauszuwerfen, ist rechtlich und politisch ein unausführbarer Alptraum.“
Polen könnte am Ende leer ausgehen
Dass Polen nun von den Corona-Hilfen ausgeschlossen wird, fürchtet Gazeta Wyborcza:
„Das schlimmste Problem, zu dem das Veto Polens und Ungarns führen kann, wäre die Blockierung des Wiederaufbaufonds. ... Es besteht das ernsthafte Risiko, dass der Rest der EU damit beginnt, diesen Fonds so umzugestalten, dass er die beiden Sperrländer nicht einschließt (z. B. unter Verwendung der Formel 'Eurozone plus'). Während eine solche Lösung beim normalen Haushalt gesetzlich nicht vorgesehen ist, ist sie beim Wiederaufbaufonds möglich. Schon im Frühjahr gab es in Polen Bedenken, dass der damals diskutierte Wiederaufbaufonds nur auf das Euro-Währungsgebiet zugeschnitten sein könnte.“
Verteidigung gegen die Willkür
Für die Orbán-treue Tageszeitung Magyar Nemzet ist das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit nur vorgeschoben, um Ländern wie Ungarn liberale Werte aufzuzwingen:
„Wenn nicht im Voraus festgelegt wird, welche Rechtsverletzungen zur Entziehung von EU-Geldern führen können, dann kann irgendjemand mit einer beliebigen neuen Idee vorpreschen, wie die Rechtsstaatlichkeitskriterien seiner Meinung nach verletzt werden. ... Neben der Homosexuellen-Lobby ist in dieser Hinsicht offensichtlich auch das Auftreten derjenigen zu erwarten, die die illegale Migration für gut und verkraftbar halten.“
Noch härterer Widerstand droht
Die größte Gefahr für Haushalt und Wiederaufbaufonds liegt für Corriere della Sera nicht in Warschau und Budapest:
„Gestern Nachmittag öffnete sich in Brüssel ein Riss in Europa. Der Wiederaufbauplan wurde vom ungarischen Premier Viktor Orbán als Geisel genommen, unterstützt von seinem polnischen Kollegen Mateusz Morawiecki. Aber Budapest und Warschau werden früher oder später nachgeben. Die wahre Bedrohung wird eine andere sein: Die sogenannten Sparsamen, von den Niederlanden über Österreich bis zu den Schweden.“