Die Taliban und die Geldfrage
Wenige Tage nach dem endgültigen Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan setzen die Taliban trotz humanitärer Probleme und düsterer Wirtschaftsprognosen ihre Machtübernahme fort. Nach dem heutigen Freitagsgebet soll die neue Regierung vorgestellt werden. Peking kündigte bereits an, die Beziehung zu Kabul weiter auszubauen. Für Kommentatoren ist die Frage der künftigen Finanzquellen der Taliban entscheidend.
Kein Machterhalt ohne verlässliche Finanzierung
Ohne Geld von außen werden die Taliban bald auf erheblichen Widerstand im eigenen Land stoßen, glaubt Polityka:
„Afghanistan braucht externe Finanzmittel nicht nur, um die Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Externe Gelder sind auch ein Mittel, um bestimmte Lobbys und ethnische oder politische Führer zu unterstützen. Der 20-jährige Frieden in Kabul, von wo aus diese Mittel von Ministerien und NGOs verteilt wurden, ermöglichte eine relativ stabile Beziehung zwischen den Warlords, die Ministerämter übernahmen und ihre Herrschaftsgebiete förderten. Wenn dieser Finanzstrom versiegen sollte, würden die Warlords zum Krieg um Machtressourcen zurückkehren, was die Position der Taliban, auch wenn sie zunächst siegreich scheinen, gefährden könnte.“
Anerkennung ist das kleinere Übel
Die Taliban anzuerkennen mag falsch erscheinen, würde jedoch größere Probleme verhindern, analysiert in De Morgen der Korrespondent für den Mittleren Osten, Ghassan Dahhan:
„Die Anerkennung brauchen sie, um eine Isolation und den Zusammenbruch ihrer Wirtschaft zu verhindern. ... Dem Westen wiederum nutzt die Anerkennung, weil eine humanitäre und wirtschaftliche Krise Afghanistan noch instabiler machen und eine neue Gefahr für die Sicherheit des Westens darstellen könnte. ... Dann könnten die Taliban aus finanzieller Notwendigkeit den Opiumhandel wieder aufnehmen und die Verbindungen zu internationalen Dschihadisten verstärken.“
Die neue Seidenstraße führt auch nach Kabul
China sucht aus guten Gründen eine enge Partnerschaft mit den Taliban, schreibt Sinologe Jorge Tavares da Silva in Público:
„Afghanistan ist für China von enormer strategischer Bedeutung, sowohl sicherheitspolitisch, als auch wirtschaftlich, wegen möglicher Deals, Investitionen, dem Zugriff auf Rohstoffe und geopolitischen Vorteilen. ... [Afghanistan] verfügt über Ölfelder und seltene Mineralien, die wichtig für die Elektrogeräte-Industrie sind. Der Ausbau der Neuen Seidenstraße von Pakistan aus könnte deshalb sehr attraktiv sein. ... Beide Seiten verbindet die Ablehnung der liberalen Demokratie. ... Peking will die politische Landschaft Afghanistans nicht verändern und hält sich offenbar aus den inneren Regierungsangelegenheiten des Landes heraus.“
Teufel oder Beelzebub
Aus Sicht von Denník N ist die entscheidende Frage nun, ob es in Afghanistan ein Emirat oder ein Kalifat geben wird:
„Es gibt mehrere Szenarien, wie die Rivalität zwischen religiösen Fundamentalisten und den schlimmsten Terroristen ausgehen kann. Wenn die Taliban den Anschein von Zivilisation bewahren wollen, müssen sie die geschätzt 2.000 IS-Kämpfer besiegen. Oder zumindest neutralisieren. Wenn ihnen das gelingt - wofür man die Daumen drücken muss - wird sich ihre Autorität paradoxerweise nicht nur bei den Einheimischen, sondern auch in der Welt erhöhen. Aber das ist eine zynische Sicht der Dinge. Dank der Taliban wird Afghanistan vielleicht nicht wieder die Basis des internationalen Terrorismus sein. Aber seine Bevölkerung wird dennoch unter der Tyrannei der Taliban leiden.“
Europa darf sich nicht weiter vorführen lassen
Auf die USA ist kein Verlass mehr, beobachtet die NZZ am Sonntag, und fordert Konsequenzen:
„Was wiegt schwerer - ein amerikanischer Präsident, der die Beistandsklausel des Nato-Vertrags infrage stellt, oder ein amerikanischer Präsident, der die Verbündeten am Nasenring durch die afghanische Manege führt? Donald Trump oder Joe Biden: Welche Politik des America first erweist sich als unheilvoller für die Europäer? ... So begründbar der Rückzug aus diesem verlorenen Krieg auch ist: Die Brüskierung der verbündeten Europäer wird lange nachwirken. ... An den Europäern liegt es nun, die Folgerungen zu ziehen. Afghanistan ist ein weiterer Weckruf. Europa muss politisch und militärisch zu einer ernst zu nehmenden Kraft werden. Oder sich weiter vorführen lassen.“
Sonderrolle für die Türkei
Die Schlüsselrolle bei der Einflussnahme auf Afghanistan werden die islamisch geprägten Länder spielen, analysiert La Repubblica:
„An erster Stelle ist hier Katar zu nennen. Es beherbergte in den letzten Jahren die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban in Doha und bewies damit, dass es die größte US-Militärbasis im Nahen Osten und gleichzeitig die engsten Mitarbeiter des verstorbenen Mullah Omar [Anführer der Taliban, von 1996 bis 2001 Staatsoberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistan] im Land vereinen kann. ... Und da Katar nicht nur ein großer Beschützer der Muslimbruderschaft, sondern auch ein strategischer Verbündeter Ankaras ist, bedeutet dies, dass die Türkei das einzige Nato-Land bleibt, das konkret in Afghanistan operieren kann.“
Opium: Für die Taliban reines Gold
20.minutos weiß schon, wie die Taliban ihre Regierung finanzieren wollen:
„Angesichts der Tatsache, dass Afghanistan das siebtärmste Land der Welt ist und seine Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, deutet alles darauf hin, dass die Taliban das Opium zu ihrer Haupteinnahmequelle machen und ihr Land in einen Drogenstaat verwandeln werden. ... Sowohl die Balkanroute als auch die südliche Route durch Pakistan führen nach Europa, dessen Drogenmärkte mit Heroin überschwemmt werden könnten. ... Alle Verhandlungen über die Anerkennung und Freigabe der Kooperationshilfe müssen auch die Eindämmung des Heroinflusses aus Afghanistan beinhalten. Opium, das für die Taliban Gold ist, bedeutet für uns den Tod. “
Man weiß eigentlich noch nichts
Wie wenig man derzeit über die Zukunft Afghanistans sagen kann, stellt der Analyst für internationale Politik Cristian Unteanu in Adevărul klar:
„Um ehrlich zu sein: Niemand hat auch nur die kleinste Vorstellung über das reale Ausmaß der derzeitigen Krise, geschweige denn Prognosen für die Zukunft. Man weiß absolut nichts über die Maßnahmen, die die künftige Taliban-Regierung umsetzen wird. Und folglich weiß man auch nicht, inwieweit sie den Auswanderungswunsch eines beträchtlichen Teils der von der Rache der Taliban direkt betroffenen Bevölkerung befeuern oder abschwächen werden.“