Wartung von Nord Stream 1: Kommt das Gas zurück?
Seit Montag fließt wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten kein Gas mehr durch die russisch-deutsche Pipeline Nordstream 1, die vor allem Nordwesteuropa versorgt. Viele fürchten, dass Moskau die Pause Nutzen wird, um Europa langfristig das Gas abzudrehen. Eine Turbine, die in Kanada zur Reparatur war, will Berlin zurückgeben, obwohl mehrere Staaten der Meinung sind, dass sie den beschlossenen Sanktionen unterliegt.
Weitere Risiken für Deutschland
Der Energieexperte Alexander Frolow meint in Iswestija, dass mit der Freigabe der reparierten Turbine durch Kanada die Probleme mit Nord Stream 1 nicht vorbei sind:
„Das von Kanada veranstaltete Schlamassel mit der Gaspump-Turbine hat den Wartungszeitplan durcheinander gebracht. Die Rückkehr der einen Turbine erlaubt, die Pipeline zur Hälfte auszulasten, denn es geht (später als geplant) noch eine Turbine nach Montréal und drei weitere müssen prophylaktisch überprüft werden. Im für Deutschland schlechtesten Fall sind also noch drei weitere Turbinen reparaturbedürftig. In diesem Fall würden im Herbst nur fünf von acht Aggregaten Gas durch Nord Stream pumpen. Natürlich muss es nicht unbedingt so kommen, aber das Risiko ist vorhanden.“
Kroatische Regierung schläft
Während Deutschland und Slowenien sich auf eine mögliche Energiekrise vorbereiten, macht Kroatien gar nichts, schimpft Telegram:
„Die kroatische Regierung ist völlig entspannt in der Frage und der Premier meint, für Maßnahmen und Warnungen 'ist noch Zeit'. Doch wann kommt diese Zeit? Im letzten Augenblick, wenn es anfängt unter unseren Füßen zu brennen? Es ist unglaublich, dass die kroatischen Bürger viel rationaler sind als diese Leute, die den Staat führen, und in vielen Haushalten schon ernsthaft über den Einbau von Holzöfen nachgedacht wird. Vielen ist auch klar, dass es keine halbstündigen Dusch-Sessions oder offene Fenster, während es draußen schneit, mehr geben wird.“
Lieber ein Ende mit Schrecken
Für den Fall, dass Russland seine Gaslieferungen nach Europa nicht wieder hochfahren sollte, empfiehlt Český rozhlas Gelassenheit:
„Seit einem Jahr schließt Russland schrittweise den Gashahn. Im letzten Winter manifestierte sich diese Strategie zunächst in einer Rohstoffknappheit in Europa und dann in einem Rekordpreissprung. ... Ende letzter Woche drohte Wladimir Putin, dass alles noch schlimmer werden und in einer Katastrophe enden könnte. Seien wir ehrlich: Je eher die Katastrophe kommt, desto besser. Europa wird gezwungen sein, eine Lösung zu finden. Aber gleichzeitig wird Putin seinen Gasknüppel verlieren.“
Kontraproduktive Panikmache
Der Standard mahnt zur Zurückhaltung:
„Russland würde sich mit einer Totalsperre auch ins eigene Fleisch schneiden. Aber rational ist seit dem Überfall auf die Ukraine nur mehr wenig. Ein schlechter Ratgeber ist jedenfalls Panik, wie sie aktuell geschürt wird. Das nützt genauso wenig wie Alarmismus, mit dem pauschal und zugleich diffus vor Wohlstandsverlust oder gar Verarmung großer Bevölkerungsschichten gewarnt wird. … Von Weltuntergang zu sprechen scheint doch übertrieben. Was es hingegen dringend braucht, ist Klarheit über die kommende Mangelwirtschaft. … Hier ist die Regierung säumig, das schürt zusätzlich Ängste. Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.“
Moskau will erstmal weiter profitieren
Irish Examiner glaubt, dass Russland mit dem Gas erst in ein paar Monaten wirklich Ernst macht:
„Sobald Russland die Lieferung komplett stoppt, wird es keinen Druck mehr ausüben können. Aus taktischer Sicht wird Moskau deshalb wahrscheinlich weiter etwas Gas schicken und sich so die Möglichkeit bewahren, nach Gutdünken Lieferungen zu stoppen oder zu verlangsamen. ... Vorerst wird der Kreml doppelt profitieren wollen: durch hohe Einnahmen und das gute Druckmittel Gas. ... Irgendwann wird Moskau aber den Gashahn komplett abdrehen, wahrscheinlich kurz vor dem Winter, um die deutsche Wirtschaft in die Knie zu zwingen. “
Schritt für Schritt aus der Abhängigkeit
El Periódico de Catalunya fordert schnelle Energie-Alternativen:
„Es erscheint sinnvoll, sich mit der durch den Krieg geschaffenen Realität Schritt für Schritt auseinanderzusetzten, beginnend mit den wirtschaftlichen Auswirkungen. Im Falle von Gas durch die Suche nach Alternativen, durch die Erhöhung der Produktion in den Golfstaaten oder durch Abkommen mit Venezuela oder dem Iran, was vor einigen Monaten noch undenkbar schien. ... Die gesamte Palette der Maßnahmen, die der EU und ihren Bürgern zur Verfügung stehen, muss angewendet werden. Die Verringerung des Gas- und Stromverbrauchs, die Suche nach alternativen Gasquellen und längerfristig die Beschleunigung der Energiewende.“
Berlin beugt sich langsam der Erpressung aus Moskau
Deutschland trickst, empört sich Corriere della Sera:
„Die Zurückhaltung von technischen und industriellen Ersatzteilen [wie der Turbine] gilt als wirksamste Waffe in den Händen Europas, um Russland und sein Regime zu schwächen. Siemens hatte die Turbine von Gazprom zur Reparatur nach Kanada geschickt, wo sie wegen der Sanktionen zurückgehalten wurde. Vor zwei Tagen kam es zu der Wendung, die Selenskyj in Rage versetzte: Der [grüne] Wirtschaftsminister Robert Habeck forderte und erreichte die Rückgabe der Turbine von Kanada nach Deutschland, um sie nach Russland zurückzuschicken. ... Man tue dies schweren Herzens, erklärte Habeck, doch man brauche die Kapazität von Nord Stream, um die Gasspeicher zu füllen. Wenn dies noch nicht den Boden für einen Bruch der Sanktionen bereitet - viel fehlt nicht mehr.“
Warten und Bangen
Lidové noviny schreibt:
„[Ein dauerhafter Lieferstopp] würde es unmöglich machen, die unterirdischen Gasspeicher der EU zu füllen, die in den Wintermonaten eine Schlüsselrolle spielen. ... Der Bevölkerung scheint der Ernst der Lage noch nicht ganz bewusst zu sein. Aber die Politiker und Wirtschaftslenker in der EU wissen, was es bedeuten würde, wenn es im Winter nicht genug Gas gibt. Sie kauen an ihren Nägeln und beten, dass die Russen Nord Stream 1 nicht für immer abschalten. Glauben wir also, dass der 11. Juli 2022 nicht als der 11. September der europäischen Wirtschaft in die Geschichte eingehen wird.“
Dauerhafte Schwächung Deutschlands droht
Expressen befürchtet auch langfristige Folgen:
„In unserem Teil der Welt steht ein Winter mit akuter Energieknappheit bevor. ... Das wird nichts ähneln, was wir zuvor gesehen haben. Die Energieknappheit beunruhigt nicht nur kurzfristig, sondern auch über den Ukrainekrieg hinaus. Deutschland riskiert im Zuge seiner unverantwortlichen Energiepolitik eine langwierige Industriekrise. Was passiert, wenn Deutschland – Europas Motor – dauerhaft geschwächt wird? Das könnte einer der größten Umbrüche unserer Zeit werden.“