Nach Protesten: Netanjahu verschiebt Justizreform
Nach heftigen Massenprotesten hat Israels Premier Benjamin Netanjahu die Verabschiedung der umstrittenen Justizreform vorerst gestoppt. Gestern Abend haben sich Vertreter der rechts-religiösen Regierung und der Opposition zu ersten Verhandlungen getroffen. Die Gespräche seien "in guter Stimmung" beendet worden. Kommentatoren glauben, dass die Krise dennoch anhalten dürfte.
Demokratie weiter in Gefahr
Die Krise ist noch nicht überstanden, sorgt sich La Croix:
„Sein [Premierminister Netanjahus] gesamtes Handeln scheint nur noch von der Notwendigkeit geleitet zu werden, der Justiz zu entkommen. Das Aufbegehren der Opposition und die Warnungen von historischen Verbündeten Israels haben ihn vorübergehend schwach werden lassen. Doch seine Verankerung, sein Geschick und seine Widerstandsfähigkeit brauchen nicht mehr bewiesen zu werden. Die getroffene, aber nicht versenkte Regierung Netanjahu behält eine knappe Mehrheit in der Knesset. Der Premier kann weiter von einer zersplitterten politischen Landschaft profitieren und auf die illiberale Versuchung eines Teils der Rechten setzen. Die von innen angegriffene israelische Demokratie ist noch nicht gerettet.“
Preis für Aufschub ist hoch
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt sich die Frage, ob Netanjahu noch die Autorität hat, einen Kompromiss auch in seiner Koalition durchzusetzen:
„Schon jetzt hat er einen beträchtlichen Preis zahlen müssen, um die Ordnung im Lande fürs Erste wiederherzustellen. Sicherheitsminister Ben-Gvir verlangte für die Zustimmung zur Vertagung der Reform, also noch nicht mal zu deren Aussetzung oder Überarbeitung, die Aufsicht über die Nationalgarde. Dass dieser extremistische Provokateur das Kommando über die jüngst gegründete paramilitärische Truppe bekommen soll, die zur Bekämpfung von Unruhen im Inneren aufgestellt wurde, könnte sich noch als problematisch herausstellen.“
Druck auf Regierung muss bleiben
Auch De Volkskrant kritisiert Netanjahus Zusage, dass der ultranationalistische Sicherheitsminister Ben-Gvir eine bewaffnete Eliteeinheit bekommen soll:
„Man kann davon ausgehen, dass die Gewalt auf dem westlichen Jordanufer zunehmen wird, was unvermeidlich zu einer neuen Gewaltspirale zwischen den palästinensischen Widerstandsbewegungen und der israelischen Armee führen wird. ... Der Teufelskreis von Gewalt, Repression, Rache und Verhärtung auf beiden Seiten endet nie, wenn die Welt weiter wegschaut. Der (internationale) Druck auf Netanjahu muss jetzt bleiben, den Rechtsstaat und die Demokratie zu respektieren. Dazu gehören auch die Rechte der Palästinenser auf ihren heimatlichen Boden und ein Leben in Freiheit.“
Immer weiter nach rechts
Für Delo ist klar, wer die Verantwortung für die Unruhen trägt:
„Die große politische Krise ist das Werk von Benjamin Netanjahu – einem Mann, der sich nie für etwas anderes als das Regieren und sein politisches Überleben interessiert hat. Ende letzten Jahres übernahm Netanjahu zum sechsten Mal die Führung der israelischen Regierung. Mit jeder Regierung, die er führte, verschob er die Grenzen der Rechten an den äußersten Rand. Mit der aktuellen Regierung, die er nach vier Jahren politischer Instabilität mit Hilfe extremster rassistischer, chauvinistischer, rückständiger und religiöser Parteien zusammengestellt hat, hat er die Grenze nicht nur über den Rand einer in demokratischen Gesellschaften noch akzeptablen rechten Politik verschoben, sondern über den Rand der Politik selbst hinaus.“
Israelis wehren sich gegen postmoderne Tyrannei
Menschen, die sich ihrer Rechte und Freiheiten bewusst sind, werden die Reform auch in Zukunft nicht zulassen, meint Karar:
„Am Ende musste Netanjahu den Gesetzentwurf vorerst stoppen. Die Gräueltaten Israels, insbesondere im Westjordanland, rechtfertigen jede Art von Protest. Aber, Israel hat auch gemäßigte und angesehene politische Führer wie [den ermordeten Premier] Jitzchak Rabin und den heutigen Präsidenten Herzog hervorgebracht. Es ist natürlich wertvoll, dass sich das israelische Volk gegen die postmoderne Tyrannei des rechtsradikalen Netanjahu und einer Koalition von kleinen Parteien, die eine Art Tora-Scharia durchsetzen wollen, erfolgreich gewehrt hat.“
Bibi stets für eine Überraschung gut
Laut einer Umfrage ist die Beliebtheit der Regierungsparteien stark gesunken. Michajlo Gold, Chefredakteur der ukrainisch-jüdischen Zeitung 'Hadashot', will Benjamin Netanjahu in einem Beitrag für lb.ua trotzdem nicht vorschnell abschreiben:
„Wenn heute Wahlen wären, wäre der Likud nicht in der Lage, eine Koalition zu bilden. ... Außerdem liegen zum ersten Mal zwei Oppositionsführer - Benny Gantz und Jair Lapid - in einem virtuellen Kampf um den Posten des Regierungschefs vor dem derzeitigen Premier. ... Netanjahu ist ein Meister vieler Schachzüge und durchaus in der Lage, seine Gegner zu überraschen. Welche Art von Überraschung? Das werden wir kurz vor der Sommersitzung der Knesset herausfinden.“
Lektion in Demokratie
Israels Premierminister hat die Kraft des Widerstands unterschätzt, meint Der Standard:
„Israel hat der Welt eine Lektion in Sachen Demokratie erteilt: Die hunderttausenden Menschen, die wochenlang bei jedem Wetter auf die Straße gingen, um ihr Land vor einer machtverliebten, in Teilen korrupten Regierung zu retten, haben vorgezeigt, dass Demokratie nicht bei Wahlen endet. ... Dass Benjamin Netanjahu den Minister feuerte, zeigt nur, wie verzweifelt er ist: Israels am längsten regierender Ministerpräsident hat sich verspekuliert. Er hat unterschätzt, wie machtlos er ist, wenn die Menge auf der Straße es ernst meint.“
Das Gegenteil vom Gewollten erreicht
Israels Premier hat sich verspekuliert, meint Spotmedia:
„Benjamin Netanjahu, der erwartet hatte, dass sich die Proteste von selbst erledigen, dass die Leute andere Probleme haben, hat damit vor allem einen Bumerangeffekt ausgelöst: ... Die Forderungen gehen nun weit über das Thema der Justizreform hinaus. Politikwissenschaftler in Israel sprechen über die Notwendigkeit einer robusten Verfassung, um mögliche künftige Machtmissbräuche zu verhindern und radikale Entgleisungen der Regierung zu sanktionieren.“
Beide Seiten müssen aufeinander zugehen
Dass eine Reform des Obersten Gerichts nötig bleibt, betont Cicero:
„Israel hat keine geschriebene Verfassung, die Obersten Richter berufen sich also auf diverse einzelne 'Grundgesetze', die allerdings keinen Verfassungsrang besitzen ... . Das heißt, die Urteile des Gerichts spiegeln vor allem die subjektiven politischen Überzeugungen der Richter wider, die sich fast ausnahmslos aus dem linksliberalen, europäisch geprägten Bürgertum rekrutieren. ... Und da das Gericht sogar ein Vetorecht bei der Ernennung neuer Richter besitzt, sorgt es selbst dafür, dass das auch so bleibt. ... Grund genug also, dass Regierung und Opposition aufeinander zugehen, um einen Kompromiss zu finden, der die notwendigen Reformen ermöglicht und die Exzesse des Regierungsvorschlags vermeidet.“
Israel braucht endlich eine Verfassung
Einen Schritt in die richtige Richtung sieht Politiken:
„Aber selbst wenn die Schlacht gewonnen ist, ist der Krieg um die Zukunft Israels noch nicht gewonnen. Die Krise hat die größten Schwächen in Israels Struktur und Demokratie aufgedeckt, die behoben werden müssen. ... Das Land ist kein junger Pionierstaat mehr, sondern eine regionale Supermacht. Es ist nicht tragbar, dass Israel keine Verfassung hat, die ein für alle Mal die Gewaltenteilung zwischen Parlament und Gerichten festlegt. Israel muss diese Unterlassungssünde jetzt korrigieren. Und dann muss die breite israelische Bevölkerung politisch und moralisch den Kampf mit den Siedlern und den ultraorthodoxen Juden aufnehmen.“
Aufschub hält Krise nicht auf
Netanjahu wird an der Reform festhalten, befürchtet Deník N:
„Das Hindernis für eine Beruhigung der Situation ist der am längsten amtierende israelische Premier selbst. ... Netanjahu, der im Gegensatz zu David Ben-Gurion, dem Gründer des modernen Staates Israel, die Politik nicht im richtigen Moment verlassen konnte, hat vor allem einen persönlichen Grund für die Reformen – er selbst wird wegen Korruption und Machtmissbrauchs angeklagt. Eine Justizreform würde ihn von Problemen mit dem Gesetz befreien und es seinen radikalen Partnern ermöglichen, die Änderungen durchzusetzen, von denen sie lange geträumt haben, die ihnen aber der Oberste Gerichtshof bisher verwehrt hat. Der Preis für ihre zynische Innenpolitik ist das Risiko, die einzig funktionierende Demokratie im Nahen Osten zu gefährden.“
Neues Nationalgefühl als treibende Kraft
Corriere della Sera beobachtet:
„Seit fast vier Monaten demonstrieren Hunderttausende von Menschen, darunter Familien, die bis zum Vortag unpolitisch waren, neben Aktivisten, Vertretern der Opposition, den Gemäßigtesten unter den Konservativen selbst. Jeden Tag mehr. Die Organisatoren der Proteste, die für eine linke Mitte stehen, die seit Jahren im Verdacht steht, den Patriotismus nicht zu verstehen, gestehen ein, dass sie die Farben der Nationalflagge wiederentdeckt haben. Und es ist dieser Rückgriff auf ein Identitätsgewebe, das zuvor ausschließlich von den Kräften der Rechten beansprucht wurde, das die Besonderheit und Dramatik des Geschehens in einem Land ausmacht, das noch nie mit einer so radikalen inneren Auseinandersetzung konfrontiert war.“