Gräuel in Butscha: Welche Reaktion muss folgen?

Die von Moskau pauschal bestrittenen Gräueltaten im Kyjiwer Vorort Butscha haben weithin Empörung ausgelöst. Während der Westen neue Sanktionen beschließt und Forderungen nach Kriegsverbrecherprozessen immer lauter werden, meldet die Ukraine viele neue zivile Opfer aus anderen Orten, aus denen sich die russische Armee zurückgezogen hat. Was soll und kann Europa tun, um weiteres Leid zu verhindern?

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Jornal de Notícias (PT) /

Verarmung in Kauf nehmen

Nun ist jede Diskussion über die Folgen der Sanktionen für Europa unangebracht, meint Jornal de Notícias:

„Das Grauen zwingt jeden, schwierige Entscheidungen zu treffen. … Die Diskussion über ein (langsames) Ende der Einfuhren russischer Kohle ist unzureichend. Putins Kriegsmaschinerie zu stoppen, wird nur möglich sein, wenn Europa den russischen Gas- und Ölhahn zudreht (und andere Partner unter Druck setzt, dasselbe zu tun). Natürlich wird das Kosten verursachen. Und es können nicht die Üblichen (die Ärmsten) sein, die das bezahlen müssen. Aber ist es nicht wert, im Namen von Anstand und Menschlichkeit eine relative und vorübergehende Verarmung in Kauf zu nehmen?“

eldiario.es (ES) /

Nachgeben, um den Wahnsinn zu beenden

Ein Waffenstillstand sollte jetzt allererste Priorität sein, findet eldiario.es:

„Butscha hat gezeigt, welche Schrecken zweifellos in vielen Teilen der Ukraine passieren. ... Natürlich ist ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof mit den Unterschriften aller Staaten erforderlich. ... Und Putin muss wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden. ... Aber was wirklich notwendig und dringend ist, ist die Beendigung des Kriegs. ... Wir müssen verhandeln und einen sofortigen Waffenstillstand erzwingen. Dies ist nicht nur ein Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Die USA und ihre wichtigsten Verbündeten müssen sich mit an den Tisch setzen, um diesen Wahnsinn zu beenden. Und nachgeben, heute nachgeben, um morgen am Leben zu sein.“

Avvenire (IT) /

Energiefasten gegen den Krieg

Italiens Premier Draghi unterstützt einen Boykott russischen Gases. "Wir müssen uns fragen, was wir vorziehen: Frieden oder den ganzen Sommer die Klimaanlage laufen lassen?", sagte er am Mittwoch. Avvenire lobt diese Worte:

„Es stellt sich die Frage, warum dies nicht auch auf politischer Ebene zur Diskussion gestellt wurde. Derweil war sie auf zivilgesellschaftlicher Ebene wie auch dank kommunaler Initiativen zum 'Energiefasten' bereits präsent. ... Dies ist der Königsweg, um sich dem Aggressor mit Entscheidungen entgegenzustellen, die darauf abzielen, eine echte und signifikante 'Sanktion' zur Verteidigung der Schwachen zu setzen. ... Denn sonst finanzieren wir den Krieg der Angreifer weiter, während wir ihn durch Waffenlieferungen an das angegriffene Volk nähren und seine Dauer verlängern.“

thejournal.ie (IE) /

Brutalität Teil der russischen Strategie

Die menschenverachtende Art und Weise, wie Russland Krieg führt, hat leider Tradition, meint thejournal.ie:

„Der Beschuss von Wohnungen im ganzen Land, die Zerstörung eines Großteils der Stadt Mariupol, die Einkesselung eines großen Teils der dortigen Bevölkerung und der systematische Beschuss ziviler Ziele tragen zu der Überzeugung bei, dass Russland die Seele der Ukraine vernichten will. ... Die Geschichte russischer Brutalität beschränkt sich nicht auf die Ukraine. Die schrecklichen Tötungen in Afghanistan, Tschetschenien und im Zweiten Weltkrieg prägen das Bild einer grausamen Art der Kriegsführung. In den vergangenen Jahren wurden Putins Streitkräfte zudem beschuldigt, Kriegsverbrechen in Syrien begangen zu haben.“

Večernji list (HR) /

Keine Vergleiche anstellen

Es wäre besser, keine Analogien aufzustellen, findet Večernji list:

„Uns und die Bosnier stört es ziemlich, wenn der Westen sagt, in Butscha fand das größte Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg statt. Man hat das Gefühl, damit werden unsere Opfer vergessen. ... Dieses Gefühl der 'Vernachlässigung' unserer Opfer und Leiden ist verständlich, so wie die Juden sich ärgern, wenn jemand anderes seine Leiden als Holocaust bezeichnet. Es besteht kein Grund für einen Wettbewerb des Leidens. ... Wir sehen, dass Kriegsverbrechen und Genozid-Taktiken sich hartnäckig immer wiederholen, was bedeutet, dass man verstärkt an der Bestrafung der Verbrecher arbeiten muss. Egal, ob es kleine Balkan-Diktatoren sind oder diejenigen, deren Botschafter im UN-Sicherheitsrat sitzen.“

Gordonua.com (UA) /

Warum die Russen ihre Augen verschließen

Die Reaktion der Menschen in Russland erklärt der Journalist Alexander Newzorow in gordonua.com:

„Ich habe verstanden, woher die Gefühle der Russen kommen, die wütend behaupten, dass das Filmmaterial von Butscha eine Lüge, eine Fälschung und eine Inszenierung ist. … Diese Bilder verdrehen ihre Welt, den Glauben an ihre Heimat und Armee, an Putin und die 'Richtigkeit' seines Kriegs. … Um sich vor dem zu schützen, was ihr gesamtes Wertesystem zerstört, können sie nur blind und fanatisch die Fakten leugnen, mit aggressiver Rhetorik. … Man hat ihnen keine Wahl gelassen. Sie werden alles tun, um nicht die Wahrheit über Butscha zu erfahren und diese nicht an sich heranzulassen.“

De Volkskrant (NL) /

Eine bittere Erkenntnis wächst

Die Verbrechen von Butscha können ein politischer Wendepunkt im Ukraine-Krieg sein, analysiert De Volkskrant:

„Die Einsicht, dass es mit Putin kein 'Zurück zur Normalität' geben wird, dass es keine schnellen Auswege aus dem Krieg gibt. Wir sind nicht im Krieg, noch nicht, aber wir sind verwickelt in den weitreichendsten und unberechenbarsten Konflikt seit langem. Und mit jeder Gräueltat wächst die Erkenntnis: Wenn die Nato die Vernichtung eines europäischen Landes zulässt, gibt es auch keine 'europäische Ordnung' mehr, die man verteidigen muss. Es steht also viel auf dem Spiel.“

Interia (PL) /

Der moralische Rahmen bricht

Für Interia sind die Gräuel von Butscha eine Zäsur für die europäische Erinnerungskultur:

„Butscha ist einerseits düstere Kriegsrealität, aber vor dem Hintergrund des letzten Jahrhunderts auch ein Umbruch. Das empfindliche Gefüge der gemeinsamen Erinnerungskultur wurde berührt. ... Der lang anhaltende Frieden in Europa nach 1945 war, obwohl er natürlich durch verschiedene dramatische Ereignisse gestört wurde, jahrzehntelang die Grundlage für den Aufbau der Demokratie und die Aussöhnung zwischen bestimmten Nationen. ... Deshalb kehren jetzt - im Jahr 2022 - die Bilder aus dem sieben Jahrzehnte zurückliegenden Krieg zu uns zurück. Diese Verbrechen bildeten zusammen mit der Mahnung 'Nie wieder' den politischen und moralischen Rahmen für unsere Welt.“

The New Times (RU) /

Unser Befreier-Mythos ist zerstört

Jewgenia Albaz, Chefredakteurin des in Russland blockierten Portals The New Times, sieht Russland moralisch ruiniert:

„Es schien, nach dem 24. Februar könnte man nicht mehr tiefer sinken als Nation, die darauf stolz war, Europa von der braunen Pest befreit zu haben. ... Der Mythos der Befreier, der ein wichtiger Bestandteil unserer Selbstidentifikation war und die Wurzel des nationalen Gedächtnisses bildete - ob man nun Anhänger des Regimes ist oder nicht - wurde endgültig zerstört. Wir werden die Bilder der mit gefesselten Händen auf der Straße erschossenen Zivilisten nicht vergessen und man wird sie uns nicht vergessen lassen. Selbst eine transparente und umfängliche Aufklärung, deren Veröffentlichung und das Zeigen von Reue werden uns nicht von dieser Schande befreien.“

Kurier (AT) /

Putin vor Gericht stellen

Wer nun überrascht ist, hatte zuvor die Augen verschlossen, erinnert der Kurier:

„Die Frauen ahnten, dass Vergewaltigungen zum Repertoire der Widerlichkeiten gehören, und dass Massenexekutionen kommen, davor warnen ukrainische Experten seit Wochen. Wir im Westen hätten das hören können. ... Im Donbass hat Putin seit 2014 ein Terrorregime zugelassen, bei dem Folter völlig normal war. In Tschetschenien hat er seine Soldaten genau das machen lassen, was die Ukrainer jetzt erleben: Sie plünderten, vergewaltigten, mordeten. Der Westen hat dabei immer zugesehen - und nichts gemacht. Europa und USA dürfen Putin darum nicht wieder einen gesichtswahrenden Ausweg bieten: Sein nächster Weg darf nur der nach Den Haag sein - zum Internationalen Strafgerichtshof.“

Berlingske (DK) /

Panzer und Kampfjets liefern

Eine entschiedene Gegenreaktion des Westens fordert Berlingske:

„Wir müssen beim Sammeln von Beweisen helfen, sodass Putin und seine Handlanger eines Tages vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt werden können. Aber auch das reicht nicht. Verschärfte EU-Sanktionen gegen Russland müssen her - wir müssen russische Banken ganz und gar kaltstellen und uns weigern, auch nur einen einzigen Euro oder Rubel für russisches Öl und Gas zu zahlen, solange das Land Krieg gegen die Ukraine führt. ... Wir müssen offensivere Waffen wie Panzer, Helikopter und Kampfflugzeuge liefern, wie von den Ukrainern zur Rettung ihres Landes erbeten. Wir dürfen der Barbarei nicht das Feld überlassen.“

Berliner Zeitung (DE) /

Kriegseintritt des Westens keine Option

Eine massive Stärkung der Ukrainer durch Waffenlieferungen fordert auch die Berliner Zeitung:

„Sie [die Ukrainer] müssen nicht nur befähigt werden, ihr Land zu verteidigen bzw. Gebiete zurückzuerobern - sie müssen auch die Chance haben, in die laufenden Verhandlungen hinein eine starke Position für ihre Forderungen zu erkämpfen. Je schwächer die russische Position auf dem Feld, desto günstiger für die Diplomaten der Ukraine. Aber eines soll ausgeschlossen bleiben, egal wie der Krieg sich wendet: Es kommt nicht infrage, dass sich der Westen in den Krieg hineinziehen lässt. Das ist keine Option - um des Weltfriedens willen.“

Diário de Notícias (PT) /

Russische Opposition stärken

Biden hatte mit seiner Einschätzung bezüglich Putin recht, meint Diário de Notícias:

„Sicherlich ist es keine gute Strategie, Regime von außen zu verändern, aber es spricht nichts dagegen, diejenigen zu unterstützen, die dies von innen heraus tun wollen. Wer die Szenen des Grauens und der Kriminalität beim Abzug der russischen Truppen aus der Region um Kyjiw gesehen hat, kann Biden kaum widersprechen. 'Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.'“

Corriere della Sera (IT) /

Nukleare Friedensgarantie gescheitert

Die atomare Abschreckung wird zur Garantie für Putins Willkür, warnt der Schriftsteller Paolo Giordano in Corriere della Sera:

„Das Prinzip der [gegenseitigen] Abschreckung hat bis zum Beweis des Gegenteils funktioniert. Jetzt ist der Gegenbeweis erbracht, und er heißt Ukraine. ... Anders kann ich mir unsere Haltung zu diesem Krieg wirklich nicht erklären: Wir lassen zu, dass ein Volk, das uns nahe steht, das europäisch ist und dem wir gerne helfen würden, ja das es verdient, dass man ihm hilft, überfallen und massakriert wird, weil wir einen nuklearen Vergeltungsschlag gegen uns fürchten. Die Abschreckung hat sich von einer Friedensgarantie in ihr Gegenteil verwandelt: in eine Garantie für Straflosigkeit, für das Recht auf Aggression und für unsere Ohnmacht.“

24tv.ua (UA) /

Das wahre Gesicht

Auf 24tv.ua beschreibt der Schriftsteller Jan Waletow, warum er jeden Glauben an die Menschen in Russland verloren hat:

„Die russische Armee ist eine Horde, die in die Ukraine gekommen ist, um zu töten, zu zerstören und zu plündern! Sie werfen die Leichen den Hunden zum Fraß vor, aber gestohlene Toilettenschüsseln und elektrische Fleischwölfe schleppen sie nach Hause. Die zweite Weltarmee von Plünderern, Vergewaltigern, Mördern und Söldnern hat ihr wahres Gesicht gezeigt. … Wenn 75 Prozent der Bevölkerung eines 140-Millionen-Landes diesen Krieg unterstützen und damit gutheißen, was die russische Armee in einem Nachbarland tut, dann sind die Russen todkrank und gehören hinter den Eisernen Vorhang, in einen Käfig, nicht in die zivilisierte Welt.“

Lidové noviny (CZ) /

Es wird im kollektiven Gedächtnis bleiben

Zu den Folgen der verstörenden Bilder aus Butscha schreibt Lidové noviny:

„Die Reaktion des Westens auf Butscha wird schneller und härter sein als auf das serbische Massaker an bosnischen Muslimen in Srebrenica 1995. ... Noch wichtiger wird die symbolische Wirkung sein. Butscha wird im kollektiven Gedächtnis bleiben, in das auch Srebrenica Eingang gefunden hat. Für den Westen wird es schwieriger, die Hilfeersuchen der Ukraine abzulehnen. Und in der Ukraine wird es künftige Friedensverhandlungen und über Jahrzehnte die Beziehungen zu Russland erschweren. Vor allem auch, weil das russische Verteidigungsministerium zynisch erklärte, dies sei ein ukrainischer Betrug, und die Russen würden niemandem auch nur ein Haar krümmen.“

La Stampa (IT) /

Die Pyramide der Gewalt

Russland-Expertin Anna Zafesova erklärt in La Stampa die Wurzeln der Gewalt:

„Wenn Diktaturen jahrzehntelang Bestand haben, dann nicht nur, weil sie abweichende Meinungen unterdrücken. Sie schaffen eine Gewaltpyramide, in der jeder akzeptiert, vom Vorgesetzten missbraucht zu werden, um im Gegenzug das Recht zu erhalten, die Untergebenen zu missbrauchen. Eine Art Schikane von oben nach unten, bei der Generäle Offiziere ohne Munition in den Tod schicken, um dem obersten Führer zu gefallen, Leutnants und Kommandanten sich selbst belohnen, indem sie ukrainische Häuser plündern, und ausgehungerte Soldaten Zivilisten vergewaltigen und töten, um sich als Teil der 'Macht' zu fühlen.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Keine Verhandlungen mit Völkermördern

Für die taz steht nun der Vorwurf des Völkermords im Raum:

„Die Diskussion darüber ist nicht abstrakt, sondern von unmittelbarer politischer Relevanz. Einer Regierung Völkermord vorzuwerfen heißt: Diese Regierung hat ihre Legitimität verwirkt. Völkermordtätern schüttelt man nicht die Hand. Sie sind keine Verhandlungspartner. Bestenfalls gehören sie vor Gericht - und für ihre direkten Opfer und deren Nachfahren ist es legitim, sie weltweit zu jagen, wie man in Kigali und Jerusalem weiß und praktiziert. Wenn Putin ein Völkermord­täter ist, haben die russischen Soldaten in Butscha nicht nur Ukrainer getötet. Sie haben auch ihrer eigenen Regierung das Grab geschaufelt.“

The Sunday Times (GB) /

Vergewaltiger kommen fast immer davon

Vergewaltigung im Krieg hat fast nie Konsequenzen, klagt Kolumnistin Christina Lamb in The Sunday Times:

„Das Problem ist, dass niemand bestraft wird. Nach 20 Jahren Tätigkeit hat der Internationale Strafgerichtshof nur eine einzige Verurteilung wegen Vergewaltigung im Krieg erreicht. Im Jahr 2000 stimmten alle Mitgliedsländer der UN, einschließlich Russland, für die Verabschiedung von Resolution 1325. Sie ruft dazu auf, Frauen und Mädchen in Konflikten vor sexueller Gewalt zu schützen. Seitdem ist das Problem nur noch größer geworden. Ich frage mich, ob es vielleicht anders wäre, wenn Männer in großem Umfang von Frauen sexuell angegriffen würden.“