Brexit-Machtkampf: Aufstand gegen Premier Johnson
Die Opposition im britischen Parlament will am heutigen Mittwoch Premier Johnson mit einem Gesetz dazu verpflichten, Brüssel um eine dreimonatige Aufschiebung des Brexit zu bitten. Sollte das Gesetz durchgehen, will Johnson Neuwahlen beantragen. Seine Tories sind durch den Wechsel eines Abgeordneten aktuell ohne Mehrheit im Parlament. Hat sich Johnson verzockt?
Neuwahl ist Chance für die Briten
Die Tories haben 21 Abgeordnete aus der Fraktion ausgeschlossen, die mit der Opposition gestimmt hatten. Aftonbladet kann die Abgeordneten verstehen und fordert Neuwahlen:
„Großbritannien befindet sich in einer nationalen Notlage. Dass mehrere Mitglieder der Konservativen bereit sind, gegen ihre eigene Regierung aufzustehen, hat nichts damit zu tun, dass sie dies in irgendeiner Weise erfreulich fänden. Sie wollen das Wohl der Nation über das der Partei und das eigene Interesse stellen. Eine Neuwahl wäre eine angemessene Art, die Frage zu lösen. Zumindest angemessener, als sich einfach in den Abgrund zu stürzen, weil man sich nicht einigen kann. Eine Neuwahl gäbe den Briten indirekt eine weitere Chance, zu sagen, was sie vom Brexit halten, jetzt, nachdem die Alternativen klarer sind als sie es im Jahr 2016 waren.“
Tory-Rebellen missachten Volkswillen
Die 21 Abgeordneten der Konservativen, die gegen die Regierungslinie stimmten, handeln zutiefst undemokratisch, empört sich The Spectator:
„Alle diese sogenannten Tory-Rebellen sind Europa-Freunde. Es ist nicht ein No-Deal-Brexit, vor dem ihnen graut, nein. Es ist die Aussicht, die EU überhaupt in irgendeiner Form verlassen zu müssen. Sie beteuern, das Land sei wichtiger als die Partei, und so weiter und so fort. Dahinter steckt eine ungeheure Arroganz: Sie sind überzeugt, dass sie in ihrer unendlichen Weisheit genau wissen, was im Interesse des Landes ist. Das betrifft alles und jeden, der hier lebt. Und so fällt es ihnen und den linken Parteien, auf deren Seite sie sich schlagen, zu, den Brexit zu verwässern, hinzuhalten oder zu vereiteln - und das obwohl 17,4 Millionen Briten dafür stimmten. Sie wissen es eben besser als wir, diese genialen Rebellen.“
Johnson kann nur verlieren
Durch die Neuwahl könnte sich die Amtszeit Boris Johnsons erheblich verkürzen, spottet La Repubblica:
„Er würde als der Premier mit der kürzesten Amtszeit in die britische Geschichte eingehen. Natürlich ist er überzeugt, dass er gewinnen wird, um dann seinen Brexit durchzuführen. Aber auch in diesem Fall würde er als letzter Premier Großbritanniens und erster von Klein-England in Erinnerung bleiben. Jenes Klein-Englands, das nach der Sezession Nordirlands und Schottlands übrig bleiben würde. Denn Iren und Schotten haben mit großer Mehrheit 2016 gegen den Brexit gestimmt und sind sicherlich nicht bereit, nun einen harten Brexit zu akzeptieren.“
Opposition geeint, Regierungspartei gespalten
Johnson hat das scheinbar Unmögliche geschafft, die Opposition zu einen und die eigene Partei zu spalten, beobachtet Die Presse:
„Erstmals steht die Opposition geschlossen zusammen, um den Crashkurs eines No-Deal-Brexit in letzter Sekunde zu verhindern. Und erstmals zeigen sich die Kräfte der Besonnenheit und Vernunft auch nicht blauäugig und einfältig. Johnsons Bulldozertaktik hat selbst den naivsten Politikern die Augen weit geöffnet. Der Mann, der 2016 den Brexit mit den Worten forderte, das Parlament müsse wieder höchste Instanz im Land sein, schickt die Abgeordneten in den Zwangsurlaub. Der Mann, der Großbritannien als Mutterland der Demokratie nie müde wird zu preisen, droht Gegnern mit brutaler Säuberung. Zugleich hat er es damit geschafft, die Spaltung seiner eigenen Konservativen noch zu vertiefen.“
Uneinige Opposition ist machtlos
Nur leise Hoffnung hegt die Frankfurter Rundschau, dass die Abgeordneten den Machtkampf gegen Johnson für sich entscheiden können:
„Dafür müssten sie ein Gesetz auf den Weg bringen, mit dem sie Johnson daran hindern, einen No-Deal-Brexit durchzusetzen. Das wird nicht leicht. Noch immer hat der Premier eine knappe Mehrheit im Parlament. Dies ließe sich ändern, wenn vor allem die Opposition einig wäre und einige Abgeordnete der regierenden Torys auf ihre Seite ziehen könnte. Allerdings sieht es derzeit nicht danach aus, als ob dieser Coup gelingen könnte. So wird Johnson wohl doch sein Ziel erreichen. Daran haben auch die landesweiten Demonstrationen am Wochenende nichts geändert.“
Johnsons taktische Spielchen
Beim Kräftemessen zwischen Premier und Unterhaus geht es bereits darum, sich bestmöglich für eine mögliche Neuwahl zu positionieren, analysiert The Spectator:
„Boris Johnson war mit seiner Erklärung in erster Linie bemüht, sich der Öffentlichkeit als jene Person zu präsentieren, die den Brexit umzusetzen versucht und - besonders wichtig! - eine unnötige Neuwahl verhindern möchte. Das bedeutet keineswegs, dass eine Neuwahl verhindert wird. Wenn die Gegner eines No-Deal-Brexit im Unterhaus diese Woche ein Gesetz durchbringen, das einen EU-Austritt ohne Abkommen verbietet, wird es sehr wahrscheinlich, dass eine Parlamentswahl folgt. Johnson möchte sicherstellen, dass ihm dafür nicht die Schuld gegeben wird. Nach der vorgezogenen Parlamentswahl 2017 sind die Konservativen immer noch gezeichnet. Sie wollen nicht als jene dastehen, die einen weiteren Urnengang erzwingen. “
Gigantisches Systemversagen
Auch Neuwahlen werden zu keiner Lösung führen, erwartet die Wiener Zeitung:
„Man will es nicht glauben: Aber Johnsons Chancen, diese Wahl zu gewinnen, sind intakt. Einfach, weil schwer vorstellbar ist, dass eine Mehrheit der Briten für die Alternative stimmen könnte; Labour-Chef Jeremy Corbyn ist ein Altlinker, der die EU schon immer als Butter in der Hand von Kapitalisten betrachtete. Dass es geschehen konnte, dass die älteste Demokratie keine mehrheitsfähige Alternative aufzubieten vermag, wenn sich eine Regierungspartei als hartnäckig unfähig erweist, zeigt das Ausmaß des Systemversagens. Auch Neuwahlen werden keine Lösung bringen, wenn es nur die Wahl zwischen zwei Übeln gibt.“
Labours Furcht vor der Neuwahl
Warum die Opposition eher skeptisch auf mögliche Neuwahlen blickt, erklärt De Volkskrant:
„Die Labour-Opposition ist auf einmal deutlich weniger begeistert angesichts möglicher Neuwahlen. Es wird nicht nur befürchtet, dass Johnson die Wahl gewinnt und dann ein No-Deal-Brexit fast nicht mehr zu verhindern ist, sondern auch, dass Johnson die Wahl erst nach der Brexit-Deadline anberaumt. ... Deshalb arbeitet das Remain-Bündnis lieber an einem Notgesetz, um den ungeregelten Austritt zu verhindern, als das Wahl-Wagnis einzugehen.“