Ist der Lockdown die Stunde der Denunzianten?

Die vielerorts verhängten Ausgangssperren und Geschäftsschließungen sind eine gesellschaftliche Herausforderung. Teilweise blühen neue Formen von Solidarität: Menschen gehen für bisher Fremde einkaufen und sprechen einander Mut zu. Gleichzeitig grassiert das misstrauische Beäugen derer, die tatsächlich oder vermeintlich die Regeln brechen.

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Falter (AT) /

Die feinen Damen und Herren machen es sich leicht

Wer andere für ihr Verhalten verurteilt, zeigt für den Falter, wie wenig Ahnung er von der Lebensrealität der weniger Privilegierten hat:

„Die feinen Damen und Herren in ihren Häusern am Stadtrand oder den 100-Quadratmeter-Dachgeschoßwohnungen in Wien, die über den dummen Pöbel schimpfen, der trotz Sicherheitsmaßnahmen einfach nicht daheimbleibt, machen es sich schon leicht. ... Wie kann die sechsköpfige Familie in ihrer Miniwohnung es wagen, hinaus in den Park zu gehen? Wie kann die Frau, die daheim mit ihrem aggressiven Ehemann eingesperrt ist, es in Betracht ziehen, rauszugehen? ... Es sind gerade harte Zeiten für uns alle, aber für manche sind sie besonders hart, das sollte man berücksichtigen, bevor man ein Foto von einer fremden Person im Park mit dem Hashtag staythefuckhome auf Instagram veröffentlicht und sich danach wieder seinem Netflix-Marathon widmet.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Spießertum kann Leben retten

Die Neue Zürcher Zeitung sieht im Comeback der Zeigefinger und Hilfspolizisten auch Positives:

„Vergessen geht im 'Blockwart!'-Geschrei jedoch, dass das Spiessertum auch eine wichtige Funktion hat. Denn es ist zwar leicht, sich moralisch über all die verbohrten Besserwisser zu erheben, die uns an Nachtruhezeiten, Velofahrverbote oder 'Betreten verboten!'-Tafeln erinnern. Aber insgeheim sind wir doch oft froh, dass sie da sind – bereit, die Drecksarbeit zu leisten, bereit, Spott und Beschimpfungen in Kauf zu nehmen, während wir uns an unserer ach so grossmütigen Laxheit ergötzen dürfen. Irgendjemand muss den Idioten auf der Autobahn sagen, dass sie Platz für die Ambulanz machen sollen. Oder die Deppen zurechtweisen, die Notfallstationen wegen Wehwehchen blockieren. Die Grenzen zwischen Spiessertum und Zivilcourage sind oft fliessend, und gerade jetzt kann das sogar Leben retten.“