Schauspieler verurteilt: Empörung in Russland

Mit einer Welle der Solidarität und neuen Proteste reagieren in Russland viele Menschen auf das Urteil gegen Schauspieler Pawel Ustinow. Er wurde wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl er lediglich telefonierte, als sich ein Mitglied der Nationalgarde bei dessen Festnahme die Schulter ausrenkte. Findet die russische Gesellschaft zu ungeahnter Stärke?

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newsru.com (RU) /

Courage statt Gleichgültigkeit

Einen beginnenden Wandel der russischen Gesellschaft erkennt Philosoph und Journalist Kirill Martynow auf Facebook - und wird von Newsru.com zitiert:

„Was wir jetzt beobachten, ist der Zusammenbruch der Gesellschaftsnorm. Sie bestand jahrzehntelang darin, dass sich für die Menschenrechte nur Narren oder umgekehrt die letzten Zyniker starkmachen können, normale Leute hingegen bei dem Thema nichts zu suchen haben. ... Aber das, was jetzt geschieht, zeigt, wie schnell sich das ändert, was für normal gehalten wird. Gestern völlige Gleichgültigkeit, heute allgemeiner ziviler Kampf gegen den Terror. ... Irgendwann endet so auch das jetzige russische Polit-Regime, das sich selbst für ewig hält. An jenem Tag werden wir in einem Land erwachen, wo jeder Konformist weiß, dass es jetzt falsch ist, den Autoritarismus zu unterstützen.“

NV (UA) /

Russlands Idole gegen Putin

Die Verurteilung von Pawel Ustinow bringt sogar Putin-loyale Künstler auf die Palme, hebt Iwan Jakowyna in Nowoje Wremja hervor:

„Ich habe fast keinen Zweifel daran, dass für Putin und seine Kleinkriminellen der erste Reflex war, diese einfach zu bestrafen. Diesen Schmarotzern ihren Zugang zu Fernsehen, Bühnen und Geld zu nehmen. Einfach, damit klar ist: Jeder Aufstand auf dem Schiff wird unerbittlich niedergeschlagen. Es gibt jedoch zwei Probleme. Erstens: Wo kann man einen Ersatz für all diese Künstler, Comedians, Musiker und Sänger finden? Es gibt einfach keine anderen! Zweitens, und dieses Problem ist schwerwiegender: ... Sie sind echte Idole, Führer der öffentlichen Meinung, 'Ingenieure der menschlichen Seelen', wie man in der Sowjetunion zu sagen pflegte.“

Rzeczpospolita (PL) /

Proteste kommen einer Lawine gleich

Auch Rzeczpospolita ist beeindruckt:

„Die Unterstützung für den Schauspieler kam wie eine Lawine. Der Regisseur Konstantin Rajkin (dessen Schüler Ustinow ist) rief Anatoli Kutscherena an, den berühmtesten Anwalt in Russland (er ist auch der Anwalt von Snowden). ... Vor Kurzem bewahrte die Gesellschaft bereits auf dieselbe Art und Weise eine zu Unrecht verurteilte Person vor dem Gefängnis: den Investigativjournalisten Iwan Golunow, dem Polizeibeamte Drogen untergejubelt hatten. Der Journalist wurde freigesprochen und mehrere Generäle des Innenministeriums verloren ihre Posten.“

Wedomosti (RU) /

Breite Solidarität macht Mut

Wedomosti freut sich, dass der Fall mehr auslöst als nur Solidarität unter Berufskollegen:

„Als erste reagieren diejenigen auf ein Unheil, die dem Opfer nahe stehen - seine Angehörigen und Kollegen. Doch an Stelle Ustinows oder Golunows kann jeder beliebige Mensch schutzlos der Staatsmaschine ausgeliefert sein. ... Nicht jedes Opfer kann mit lauter und massenhafter Unterstützung rechnen. Denn häufig verstehen nur die Berufskollegen, dass dieses der Staatsmacht völlig ausgeliefert ist. Was jetzt geschieht, sind erste Schritte auf dem langen Weg zu einer echten Zivilgesellschaft im Land. Es sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.“

Echo Moskwy (RU) /

Selbst die Kirche spürt den neuen Wind

Dass selbst aus Kirchenkreisen Kritik an dem Urteil laut wird, freut Anton Orech von Echo Moskwy:

„Bisher hat die Kirche im Rahmen von Nächstenliebe und Tugend jede beliebige Gewalt der weltlichen Macht unterstützt. ... Denn die Bevölkerung ist für die Russisch-Orthodoxe Kirche wie für den Kreml nichts weiter als eine Einkommensquelle. ... Einzelne Proteststimmen sahen unter den Kirchenleuten immer seltsam aus und ein protestierender Geistlicher galt als Sonderling. Aber offenbar hängt jetzt etwas in der Luft, das die Hirne durchpustet und die faulen Glieder belebt. Man kann es Mode nennen oder Die-Fahne-in-den-Wind-Hängen. Mir ist es allerdings lieber, wenn es modisch ist, unschuldig Leidende zu unterstützen und nicht, sie kollektiv zu verurteilen. Auf dass der Wind in Richtung Gerechtigkeit drehe und nicht in Richtung Willkür.“