Juncker verspricht ewigen Sommer

Kommissionschef Juncker hat am Freitag angekündigt, dem Votum der EU-weiten Umfrage zur Zeitumstellung zu folgen. Mehr als 80 Prozent der 4,6 Millionen Teilnehmer hatten sich für deren Abschaffung ausgesprochen. Juncker hätte besser nachdenken sollen, bevor er vorprescht, kritisieren Kommentatoren.

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Wiener Zeitung (AT) /

Riskanter Populismus der EU

Den Vorstoß von EU-Kommissionspräsident Juncker, wegen einer Umfrage die Zeitumstellung abzuschaffen, hält die Wiener Zeitung für gefährlich:

„Als Grundlage für eine demokratische Entscheidung taugt diese Online-Umfrage schlicht nicht. Man stelle sich vor, bei einem anderen Thema hätte Deutschland ein EU-weites Stimmengewicht von zwei Dritteln - und mit Österreich hätte der deutschsprachige Block sogar 70 Prozent! Mit der Aktion zur Zeitumstellung ist nun auch die EU-Kommission der in der Politik stets gegenwärtigen Versuchung zum Populismus erlegen. Damit hat Juncker eine riskante Tür geöffnet: Mit ein bisschen Fantasie fallen einem viele Fragen ein, die sich für Online-Umfragen eignen würden. Auch solche mit mehr Sprengkraft, als bloß an der Uhr zu drehen. Eine Beteiligung von 0,92 Prozent reicht als Legitimation offensichtlich schon aus.“

Le Soir (BE) /

So wird Europa nicht geeint

Möglicherweise wären andere Politikfelder besser gewesen, um das Vertrauen der Bürger in die EU-Institutionen wiederherzustellen, mutmaßt Le Soir:

„Etwas, das alle verstehen, schnell und einfach durchzusetzen, macht die Dinge nicht zwangsläufig einfacher. Wenn die EU tatsächlich entscheidet, dass die Zeitumstellung abgeschafft wird, kann jeder Staat entscheiden, welcher Zeitzone er angehören will: Das stellt weitere Kämpfe in Aussicht, dieses Mal auf nationalem Level. ... All das wird uns kein starkes, einiges und friedliches Europa zurückbringen. Die EU wird einen allgemeinen Wunsch erfüllt haben, wie soll man sie dafür kritisieren. Doch reicht das aus, um das Vertrauen in das europäische Projekt zurückzugewinnen, und den so stark in die Kritik geratenen Institutionen ihre Glaubwürdigkeit zurückzugeben?“

Iltalehti (FI) /

Finnen brauchen im Herbst mehr Licht

Die Abschaffung der Zeitumstellung könnte den Menschen ein Gefühl der Beständigkeit geben, findet Iltalehti:

„An Herbstabenden in Finnland wurde es früh dunkel, weil der Tag durch die Umstellung der Uhren verkürzt wurde. Dadurch wurde die helle Zeit des Tages weniger. Das merkt man zum Beispiel am Studien- und Arbeitsplatz, wenn der Arbeitstag im Dunkeln beginnt und im Dunkeln endet. Selbst eine Veränderung um nur eine Stunde macht sich im menschlichen Lebensrhythmus und beim Schlafen bemerkbar. … Und in der heutigen hektischen Welt kann es den Menschen auch symbolisch ein Gefühl der Beständigkeit geben, bei derselben Zeit zu bleiben.“

Berliner Zeitung (DE) /

Emotionen können nicht reguliert werden

Das Abstimmungsergebnis zeigt der Berliner Zeitung, dass die Emotionen der Bevölkerung zur Zeitumstellung unterschätzt wurden:

„Die Entscheidung für eine Sommerzeit wurde stets durch den pragmatischen Nutzen bestimmt, den man sich von ihr versprach. Energieeinsparungen, politische Einigkeit, nicht nur zwischen Bundesrepublik und DDR, sondern in ganz Europa. Die emotionalen und körperlichen Belastungen, die die Zeitumstellung zweifellos mit sich bringt, glaubte man der Bevölkerung zumuten zu können. ... Das eindeutige Abstimmungsergebnis gegen die Winterzeit ist vor allem auch ein politisches Menetekel über unterschätzte Emotionen. Es verweist darauf, dass es politische Stimmungen gibt, die nicht vollends in politischer Vernunft aufgehen und fügt sich in ein Gesamtbild des Unbehagens gegenüber staatlichen Ordnungssystemen.“

Il Post (IT) /

Nord-Süd-Gefälle beim Sonnenlicht

Geographische Unterschiede machen die Zeitumstellung in den verschiedenen Ländern Europas unterschiedlich erträglich, ergänzt Il Post:

„Vielen mag das Ritual der Zeitumstellung harmlos erscheinen, aber die Folgen der Konvention sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Aus geographischen Gründen profitieren die Länder Südeuropas mehr davon als die anderen. Vereinfacht gesagt: Da sie auf etwa halbem Weg zwischen Nordpol und Äquator liegen, ist der Unterschied der Länge der Tage im Sommer und im Winter relativ geringfügig. Die Uhr eine Stunde vorzustellen, bedeutet eine 'Verlängerung' der Tage, die alles in allem erträglich ist. ... In den nordeuropäischen Ländern hingegen sind die Sommertage ohnehin schon lang, da die Länder näher am Nordpol liegen. Die Sommerzeit akzentuiert somit ein bereits vorhandenes (und für den Körper schwer zu verkraftendes) Phänomen.“