Streit über Sterbehilfe in Estland

In Estland hat der Fall einer unheilbar an der Muskelkrankheit ALS erkrankten Frau, die in der Schweiz durch Sterbehilfe ihr Leben beenden möchte, eine Debatte ausgelöst. Kommentatoren diskutieren die Komplexität von Sterbehilfe und wenden sich mit einer klaren Forderung an die Politik.

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Postimees (EE) /

Wem gehört das Recht auf Leben?

Der Mensch soll grundsätzlich über sein Leben selbst entscheiden können, meint der ehemalige Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Rait Maruste in Postimees:

„Wem gehört das Recht auf Leben? Eine eigenartige Frage. Natürlich gehört das Recht auf Leben dem Menschen selbst, niemand anderem. Nicht anderen Menschen, Institutionen, Eltern, Angehörigen, Herrschern, Glaubensführern, Religionen, Gesellschaften und auch nicht dem Staat. In einer freien Gesellschaft entscheidet der Mensch selbst über sein Leben. ... Die Beihilfe zum Suizid ist kompliziert, denn es setzt die aktive Hilfe eines Anderen voraus. Damit Helfer und Angehörige nicht unter der Schuld oder den Beschuldigungen leiden müssen und damit sichergestellt ist, dass ein Mensch freiwillig aus dem Leben scheidet, brauchen wir klare Grundsätze, konkrete Regeln und Verfahren ebenso wie neutrale Beobachter.“

Õhtuleht (EE) /

Das Pflegesystem muss besser werden

Die ehemalige Leiterin der Gesellschaft für Muskelkranke, Külli Reinup, warnt in Õhtuleht davor, die Todespille als schnelle Lösung zu akzeptieren:

„Alle Parteien sollten im Wahlkampf eine praktische Frage beantworten: Wie können wir ein funktionierendes Pflegesystem innerhalb der nächsten vier Jahre aufbauen? Ein System, das eine menschenwürdige Behandlung am Ende des Lebens für die Betroffenen und deren Familien gewährleistet. Sollten diese Menschen nicht lieber nach der Giftpille greifen, fragt so mancher. Das wäre doch billiger für sie selbst und für den Staat. Fünf Monate Qual in einer Pflegeanstalt kosten so viel wie ein Ticket in die Schweiz. ... Nein und nochmals nein! Denn dann würden wir nie darüber nachdenken, das Sozialsystem auszubauen. Ein mangelhaftes Sozialsystem darf die Menschen nicht in den Selbstmord treiben. Dann würde der Staat dem Bürger nicht mehr dienen.“