Selenskyj: Doch politische Lösung für die Krim?

Immer wieder hatte Kyjiw seine Entschlossenheit betont, die von Russland seit 2014 besetzte Krim militärisch zurückzuerobern. Doch nun hält Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Verhandlungslösung für denkbar: Wenn die Ukrainer bis an die Krim herangerückt seien, könne man “politisch die Demilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der ukrainischen Krim erzwingen”, sagte er am Sonntag. Kommentatoren ordnen den Vorstoß ein.

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La Repubblica (IT) /

Balsam gegen die Erschöpfung

Selenskyj macht sich Sorgen um die Stimmung im Volk, vermutet La Repubblica:

„Hinter diesen Worten könnte eine beruhigende Botschaft an die Nation stehen, die erschöpft ist - von den Monaten des Krieges, von den Verlusten an Zivilisten (9.500 laut UNO) und Soldaten, von der ständigen Bombardierung von Städten, Krankenhäusern und Schulen, von der zerstörten Infrastruktur und der Aussicht auf einen gigantischen und sehr kostspieligen Wiederaufbau im ganzen Land. … Vor diesem ungewissen Horizont stellt sich auch das Problem der [für Oktober vorgesehenen] Parlamentswahlen, zu denen Selenskyj bereit ist, 'wenn unsere Parlamentarier dazu bereit sind, denn wir brauchen Änderungen in der Gesetzgebung und im Wahlgesetz'.“

Der Standard (AT) /

Eher ein Zeichen für Moskaus Schwäche

Der Standard sieht den ukrainischen Präsidenten keineswegs aus der Defensive handeln:

„Die Motivation in der Ukraine zur Rückeroberung ihres rechtmäßigen Territoriums ist ungebrochen hoch. Die Motivation, Putin sein Prestigeobjekt Krim wieder zu entreißen, ungleich höher. Völkerrechtlich ist alles klar: Die Krim ist Teil des ukrainischen Staatsgebiets. De facto zweifelte vor Februar 2022 aber kaum jemand daran, dass Moskau dort das Sagen hatte. Dass nun über die Zukunft der Krim diskutiert und vielleicht irgendwann verhandelt wird, ist ein Zeichen der Schwäche Moskaus. Ein Schlamassel, das sich Putin selbst eingebrockt hat.“

Corriere della Sera (IT) /

Aktion statt Reaktion

Selenskyj eilt den Tatsachen mit gutem Grund voraus, analysiert Corriere della Sera:

„Die Ukraine könnte das seit der russischen Invasion geltende Kriegsrecht aufheben und bis 2024 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abhalten. Zudem kann das ukrainische Militär nicht tief im russischen Hoheitsgebiet operieren, ohne zu riskieren, Verbündete zu verärgern. ... Der tiefere Sinn ist, dass der ukrainische Präsident mehr als 18 Monate nach Beginn der Invasion versucht, das Land wieder für Politik und Diplomatie zu öffnen. Selenskyj ist sich bewusst, dass die Alliierten bald Druck ausüben werden, um den Krieg zu beenden, und er greift dem vor. Die Gegenoffensive im Südosten erzielt einige Teilerfolge, aber das Ziel der Befreiung aller besetzten Gebiete liegt noch in weiter Ferne.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Ukraine muss kleinere Brötchen backen

Der Tages-Anzeiger erkennt ein taktisches Manöver:

„Am Ende wird der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wohl doch militärisch entschieden werden. In diesem Krieg oder vielleicht auch erst in einem nächsten Krieg. Aber wenn die Ukraine sich jetzt realistische Ziele setzt, wird sie die eigenen Unterstützer in Washington, London, Berlin und anderswo eher bei der Stange halten können, als wenn sie gleich aufs Ganze, in diesem Falle auf die Rückeroberung der Krim, geht.“