Estland: ein Star-Regisseur unter Verdacht

Der Fall eines Theaterdirektors, der eine Schauspielerin geschlagen haben soll, erregt in Estland großes Aufsehen. Tiit Ojasoo ist Leiter des Tallinner Avantgardetheaters NO99 und musste sich vor Gericht für einen entsprechenden Vorfall im Januar verantworten. Vergangene Woche gab es eine außergerichtliche Einigung mit dem Opfer - doch für die estnischen Medien ist die Angelegenheit damit nicht erledigt.

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Õhtuleht (EE) /

Politiker sollten sich nicht einmischen

Mehrere Parlamentsabgeordnete haben den Kulturminister aufgefordert, den Star-Regisseur Ojasoo nach seinem Gewaltausbruch gegen eine Schauspielerin zu entlassen. Das Boulevardblatt Õhtuleht sieht diese Reaktion skeptisch:

„Lassen wir die Kleinigkeit beiseite, dass so mancher der Kritiker nicht immer selbst die Rolle eines moralischen und ethischen Leuchtturms der Gesellschaft erfüllt. Es ist auch nicht auszuschließen, dass hinter der gerechtfertigten Empörung der scheinheilige Wunsch steht, selbst gesehen zu werden und eine offene Rechnung mit Ojasoo zu begleichen. Was könnte man mit ihm noch anstellen? Ihn in die Produktion schicken oder in ferngelegene Gebiete deportieren, ohne das Recht darauf, Briefe zu schreiben und zu bekommen? In eigenartiger Weise kann die Forderung der zehn Parlamentarier zu einer Bestätigung der Gesellschaftskritik des NO99-Theaters werden.“

Eesti Päevaleht (EE) /

Kein Theater, sondern Gewalt

Die Zeitung Eesti Päevaleht kritisiert all jene, die glauben, dass der Angriff gegen die Schauspielerin Teil der Inszenierung eines Theaterstücks gewesen sei:

„Niemand kann sich ernsthaft vorstellen, wie aus der Gewalttat gegen eine Frau, die zufällig auch Angestellte von Ojasoo war, eine sozialkritische Inszenierung entwickelt werden soll. Dieser Zeitung liegen Berichte vor, wonach es sich nicht nur um Geschubse gehandelt hat, sondern um eine richtige Schlägerei. Wiederholt, mit Händen und Füßen. In diesem Licht wirkt die Erklärung von Ojasoo, dass alles, was mit ihm passiert, irgendwann zu einem Stück wird, wie ein geschickter Versuch, sich reinzuwaschen. Dabei war die Tat so schwerwiegend, dass man kaum glauben kann, dass dies das erste Mal war, dass er zu physischer Gewalt gegriffen hat.“

Eesti Rahvusringhääling (ERR Online) (EE) /

Das Schicksal eines gefallenen Engels

Warum das Medieninteresse für den Fall so groß ist, versucht das Onlineportal des estnischen Rundfunks zu erklären:

„Ojasoo ist für viele eine positive Gestalt, ein beliebter Künstler, dessen Name mit vielen fesselnden Spektakeln verbunden wird. Wenn so jemand etwas Abscheuliches tut, fällt es allen schwer, sich eine Meinung zu bilden. Anders als in den Fällen, wo der Gewalttäter ein generell verhasster Mensch ist, wird hier ein Teil der Gesellschaft den beliebten Künstler verstehen. Es entstehen viele widersprüchliche Gefühle. Dabei ist der Status des beliebten Künstlers ihm auch eine Bürde. Wenn jemand mit seinem Theater den Eindruck geschaffen hat, er sei die Ehre und das Gewissen Estlands, wird von ihm tadelloses Verhalten im Arbeits- und Privatleben erwartet. Wenn da etwas nicht stimmt, wendet sich ein Teil der Gesellschaft strenger als sonst gegen den 'gefallenen Engel'.“