Riesen-Pride in Budapest: Schlappe für Orbán?

Knapp 200.000 Menschen sind nach Veranstalterangaben in einer Pride-Parade durch Budapest gezogen – weit mehr als bei früheren Umzügen. Auch rund 70 Europa-Abgeordnete beteiligten sich, um für LGBTQ-Rechte zu demonstrieren. Budapests Oberbürgermeister hatte die Veranstaltung zu einem städtischen "Freiheitsfest" erklärt, um Verbotsversuche der Orbán-Regierung zu unterlaufen. Kommentatoren beleuchten die politischen Aspekte.

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Mladá fronta dnes (CZ) /

Schuss ins eigene Knie

Die Verbotsbemühungen haben Ungarn massiv geschadet, findet Mladá fronta dnes:

„Als hätte sich die ungarische Regierung selbst ins Knie geschossen. Hätte sie den Marsch mehr oder weniger frei planen lassen, ohne ideologische Rhetorik und die Verabschiedung eines neuen Gesetzes, wäre nicht viel passiert. Oder wenn man es den Kommunen, den lokalen Regierungen überlassen hätte. Wie in Israel, wo die Demonstrationen friedlich im freigeistigen Tel Aviv stattfinden, im religiös geprägten Jerusalem aber schwer durchzusetzen sind. Ungarn hat sich jedoch für ein generelles Verbot entschieden und sich damit den Ruf des Obskurantismus eingehandelt. Das Ergebnis? Ungarn ist noch mehr das schwarze Schaf des progressiven Westens. Und Orbán kann sich fragen: 'War es das wert?'“

hvg (HU) /

Zu früh, um sich erleichtert zurückzulehnen

Eine Demonstration bedeutet noch keinen Wandel, mahnt hvg:

„Jetzt, nach dem größten Protest gegen die Machtausdehnung der Orbán-Regierung, kommt leider nicht die Zeit der Zufriedenheit und Freude. Denn die quälende Frage bleibt: War das alles eine einmalige Welle, dank günstiger Umstände, sonnigen Wetters, gelöster Stimmung vor den Ferien, [dem Oberbürgermeister] Gergely Karácsony, der internationalen Aufmerksamkeit – oder haben wir wirklich erkannt, dass es nur einen Weg gibt, unser Schicksal in die Hand zu nehmen? Dieser besteht darin, aufzustehen, aber nicht nur für uns selbst, sondern auch für die anderen. Ansonsten wird der Marsch vom Samstag in den immer graueren Tagen des Orbán-Systems nur eine bunte Erinnerung bleiben.“

vasarnap.hu (HU) /

Unbedeutend für die nächsten Wahlen

Aus dem Marsch lässt sich nicht auf einen Stimmungsumschwung schließen, meint auch vasarnap.hu:

„Die Mehrheit der Menschen, vor allem in ländlichen Gebieten, interessieren sich nicht für solche Angelegenheiten, da sie wichtigeres zu tun haben. ... Freilich interpretieren die Budapester linksliberalen Intellektuellen die Situation wieder einmal falsch und denken, dass sie am Wochenende die Welt gerettet haben. Wenn es dann bei den Wahlen nicht entsprechend ihres Weltbilds läuft, werden wieder die Wähler schuld sein, weil diese nicht sehen, was tatsächlich gut für sie wäre. ... Deshalb wird nichts davon abhängen, wie viele Leute auf der Pride waren. Zweifellos eine große Zahl, aber sie haben wahrscheinlich immer links gewählt.“

Der Standard (AT) /

Der Kaiser ist nackt

Das System Orbán befindet sich im Niedergang, meint Der Standard:

„Das wirkungslose Verbot lässt Orbán als nackten Kaiser dastehen. Ein Autokrat, der seine Verbote nicht durchsetzen kann, zeigt Schwäche. Das verunsichert seine Anhänger, die ihn wegen seiner Stärke anhimmeln. Und es ermutigt seine Gegner. Mit dem Pride-Verbot hat sich Orbán verkalkuliert. Der Hass auf die Schwulen und Transsexuellen, den er schüren ließ, polarisiert Ungarns Gesellschaft längst nicht mehr so sehr wie von ihm erhofft. Gewiss, weit draußen auf dem Land sitzt das Ressentiment noch tief, aber dort gibt es keine Prides. Budapest hingegen ist heute ebenso eine Pride-Stadt wie Wien, München oder London.“

Mediapart (FR) /

Ohrfeige für die Regierung

Mediapart analysiert:

„In Viktor Orbáns Ungarn werden Neonazi-Kundgebungen toleriert und Antifa-Gegendemonstranten verfolgt; Pro-LGBTQIA+-Demonstrationen sind verboten, Gegendemonstrationen der extremen Rechten jedoch nicht. Die Partei Unsere Heimat (Mi Hazánk) und ihre ultrarechten Hilfsgruppierungen hatten kein Problem damit, die Erlaubnis der Behörden zu erhalten, um dem Marsch den Weg abzuschneiden. ... Sie luden 'weiße heterosexuelle Christen' ein, ihre Reihen zu verstärken, um sich schließlich mit nur einigen Dutzend Personen vor einer Menschenflut wiederzufinden. ... Am Samstag zeigte der 'Orbánismus' seine offensichtlichen Grenzen: Er hat seinen Kulturkampf gegen den politischen Liberalismus nicht gewonnen. Nun bleibt der Kampf an den Wahlurnen im nächsten Jahr.“

Népszava (HU) /

Ein glückliches und freies Leben wäre möglich

Nicht nur das Verbot, auch die Reaktion des ungarischen Premiers ist ein Eigentor, glaubt Népszava:

„Laut Viktor Orbán wurde die Budapest Pride auf 'Anordnung aus Brüssel' abgehalten, woraus sich gleich zwei Schlüsse ziehen lassen: Der Regierungschef ist offenbar nicht imstande, aus dem ungebremst rasenden Dummheitszug auszusteigen. Zudem hat er auch die Fähigkeit verloren, Fehler zu korrigieren. Und seine Äußerung, die Regenbogenparade zeige, wie unser Leben aussähe, wenn nicht eine 'nationale Regierung' an der Spitze des Landes stehen würde, ist ein Eigentor. ... Die Ungarn haben tatsächlich einen Vorgeschmack darauf bekommen, wie ihr Leben ohne die Fidesz-Regierung wäre, die unentwegt Hass schürt: glücklich und frei.“

El Mundo (ES) /

Autoritäres Abdriften ist unerträglich

Für El Mundo ist das Maß voll:

„Mit seinem Verbot der Pride hat Orbán seine illiberale Herausforderung an Europa gesteigert und die Grundwerte der Union in einem so sensiblen Bereich wie den individuellen Freiheiten und Menschenrechten in Frage gestellt. Das autoritäre Abdriften des ungarischen Ministerpräsidenten erreicht unerträgliche Ausmaße. ... Nachdem er seine Macht auf Kosten der Justiz und mittels der Beschneidung der Pressefreiheit gestärkt hat, hat Orbán eine ultrakonservative Gesellschaftspolitik auf den Weg gebracht, die mit der EU-Mitgliedschaft unvereinbar ist. ... Die EU verfügt über Mechanismen, um Mitglieder zu sanktionieren, die die Regeln nicht einhalten. Es ist an der Zeit, diese zu aktivieren und der Offensive gegen die Rechtsstaatlichkeit ein Ende zu setzen.“

Sydsvenskan (SE) /

Mehr als ein buntes Spektakel

Sydsvenskan erinnert an Grundsätzliches:

„Das Recht einer homosexuellen Person, frei zu lieben und über ihren Körper und ihre Identität zu entscheiden, schränkt die Freiheit und die Rechte einer heterosexuellen Person nicht ein. Im Gegenteil. Eine Gesellschaft, die sich um Minderheiten kümmert, sie schützt und sich für sie einsetzt, ist eine freiere und integrativere Gesellschaft für alle. Doch das ist nicht das Ziel rechter Nationalisten und Populisten. Daher wird Pride oft auf ein buntes, nacktes Spektakel reduziert und als Boxsack im Kulturkampf benutzt. Tatsächlich war dies schon immer einer der wichtigsten Freiheitskämpfe der Demokratie.“

Index (HU) /

Erfolg trotz Niederlage?

Laut Index könnte die Pride der Regierung sogar helfen, ihr politisches Lager zusammenzuhalten:

„Viktor Orbán und die [Regierungspartei] Fidesz haben mit der Pride-Demonstration in Budapest eine politische Niederlage erlitten. ... Welche Folgen wird dies für die Fidesz und Orbán haben? Gar keine. Der Fidesz wird aus dieser politischen Situation gestärkt hervorgehen. ... Je mehr Menschen zur Pride gehen, je mehr Menschen sich dem polizeilichen – staatlichen – Verbot widersetzen, desto sichtbarer ist für die Fidesz-Anhänger, mit welch ernstem Gegner sie es zu tun haben. ... Laut Meinungsumfragen stehen die Fidesz-Wähler in Sachen LGBTQ voll hinter der Regierung.“