Riesen-Pride in Budapest: Schlappe für Orbán?
Knapp 200.000 Menschen sind nach Veranstalterangaben in einer Pride-Parade durch Budapest gezogen – weit mehr als bei früheren Umzügen. Auch rund 70 Europa-Abgeordnete beteiligten sich, um für LGBTQ-Rechte zu demonstrieren. Budapests Oberbürgermeister hatte die Veranstaltung zu einem städtischen "Freiheitsfest" erklärt, um Verbotsversuche der Orbán-Regierung zu unterlaufen. Kommentatoren beleuchten verschiedene Aspekte.
Der Kaiser ist nackt
Das System Orbán befindet sich im Niedergang, meint Der Standard:
„Das wirkungslose Verbot lässt Orbán als nackten Kaiser dastehen. Ein Autokrat, der seine Verbote nicht durchsetzen kann, zeigt Schwäche. Das verunsichert seine Anhänger, die ihn wegen seiner Stärke anhimmeln. Und es ermutigt seine Gegner. Mit dem Pride-Verbot hat sich Orbán verkalkuliert. Der Hass auf die Schwulen und Transsexuellen, den er schüren ließ, polarisiert Ungarns Gesellschaft längst nicht mehr so sehr wie von ihm erhofft. Gewiss, weit draußen auf dem Land sitzt das Ressentiment noch tief, aber dort gibt es keine Prides. Budapest hingegen ist heute ebenso eine Pride-Stadt wie Wien, München oder London.“
Ohrfeige für die Regierung
Mediapart analysiert:
„In Viktor Orbáns Ungarn werden Neonazi-Kundgebungen toleriert und Antifa-Gegendemonstranten verfolgt; Pro-LGBTQIA+-Demonstrationen sind verboten, Gegendemonstrationen der extremen Rechten jedoch nicht. Die Partei Unsere Heimat (Mi Hazánk) und ihre ultrarechten Hilfsgruppierungen hatten kein Problem damit, die Erlaubnis der Behörden zu erhalten, um dem Marsch den Weg abzuschneiden. ... Sie luden 'weiße heterosexuelle Christen' ein, ihre Reihen zu verstärken, um sich schließlich mit nur einigen Dutzend Personen vor einer Menschenflut wiederzufinden. ... Am Samstag zeigte der 'Orbánismus' seine offensichtlichen Grenzen: Er hat seinen Kulturkampf gegen den politischen Liberalismus nicht gewonnen. Nun bleibt der Kampf an den Wahlurnen im nächsten Jahr.“
Ein glückliches und freies Leben wäre möglich
Nicht nur das Verbot, auch die Reaktion des ungarischen Premiers ist ein Eigentor, glaubt Népszava:
„Laut Viktor Orbán wurde die Budapest Pride auf 'Anordnung aus Brüssel' abgehalten, woraus sich gleich zwei Schlüsse ziehen lassen: Der Regierungschef ist offenbar nicht imstande, aus dem ungebremst rasenden Dummheitszug auszusteigen. Zudem hat er auch die Fähigkeit verloren, Fehler zu korrigieren. Und seine Äußerung, die Regenbogenparade zeige, wie unser Leben aussähe, wenn nicht eine 'nationale Regierung' an der Spitze des Landes stehen würde, ist ein Eigentor. ... Die Ungarn haben tatsächlich einen Vorgeschmack darauf bekommen, wie ihr Leben ohne die Fidesz-Regierung wäre, die unentwegt Hass schürt: glücklich und frei.“
Autoritäres Abdriften ist unerträglich
Für El Mundo ist das Maß voll:
„Mit seinem Verbot der Pride hat Orbán seine illiberale Herausforderung an Europa gesteigert und die Grundwerte der Union in einem so sensiblen Bereich wie den individuellen Freiheiten und Menschenrechten in Frage gestellt. Das autoritäre Abdriften des ungarischen Ministerpräsidenten erreicht unerträgliche Ausmaße. ... Nachdem er seine Macht auf Kosten der Justiz und mittels der Beschneidung der Pressefreiheit gestärkt hat, hat Orbán eine ultrakonservative Gesellschaftspolitik auf den Weg gebracht, die mit der EU-Mitgliedschaft unvereinbar ist. ... Die EU verfügt über Mechanismen, um Mitglieder zu sanktionieren, die die Regeln nicht einhalten. Es ist an der Zeit, diese zu aktivieren und der Offensive gegen die Rechtsstaatlichkeit ein Ende zu setzen.“
Mehr als ein buntes Spektakel
Sydsvenskan erinnert an Grundsätzliches:
„Das Recht einer homosexuellen Person, frei zu lieben und über ihren Körper und ihre Identität zu entscheiden, schränkt die Freiheit und die Rechte einer heterosexuellen Person nicht ein. Im Gegenteil. Eine Gesellschaft, die sich um Minderheiten kümmert, sie schützt und sich für sie einsetzt, ist eine freiere und integrativere Gesellschaft für alle. Doch das ist nicht das Ziel rechter Nationalisten und Populisten. Daher wird Pride oft auf ein buntes, nacktes Spektakel reduziert und als Boxsack im Kulturkampf benutzt. Tatsächlich war dies schon immer einer der wichtigsten Freiheitskämpfe der Demokratie.“
Erfolg trotz Niederlage?
Laut Index könnte die Pride der Regierung sogar helfen, ihr politisches Lager zusammenzuhalten:
„Viktor Orbán und die [Regierungspartei] Fidesz haben mit der Pride-Demonstration in Budapest eine politische Niederlage erlitten. ... Welche Folgen wird dies für die Fidesz und Orbán haben? Gar keine. Der Fidesz wird aus dieser politischen Situation gestärkt hervorgehen. ... Je mehr Menschen zur Pride gehen, je mehr Menschen sich dem polizeilichen – staatlichen – Verbot widersetzen, desto sichtbarer ist für die Fidesz-Anhänger, mit welch ernstem Gegner sie es zu tun haben. ... Laut Meinungsumfragen stehen die Fidesz-Wähler in Sachen LGBTQ voll hinter der Regierung.“