Neustart für Europas Sozialdemokraten?

Nicht nur die deutschen Sozialdemokraten haben in wichtigen Wahlen Federn gelassen. Auch in anderen europäischen Ländern stecken die traditionellen Arbeiterparteien in der Krise. Europas Medien sehen dafür unterschiedliche Ursachen.

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Irish Examiner (IE) /

In der Mitte ist nur noch ein Platz frei

Die Bundestagswahl hat den Trend bestätigt, dass im politischen Zentrum westlicher Länder kein Platz mehr für mehrere konkurrierende Parteien ist, analysiert Kolumnist Leonid Bershidsky in Irish Examiner:

„Es scheint immer mehr, als würde das politische Zentrum auf Wähler nur noch dann anziehend wirken, wenn es als vereinigte Kraft auftritt und nicht als ein Ort, an dem etablierte Parteien miteinander konkurrieren. Die derzeit stärkeren Parteien der Mitte - darunter anscheinend vor allem Mitte-rechts-Parteien - werden zum Anziehungspunkt für Zusammenschlüsse oder stabile Bündnisse. Wenn keine Partei stark genug ist, dann winkt das französische Szenario [einer neuen Bewegung]. ... Der Wettbewerb um die Wähler wird heute zwischen einem politischen Zentrum als vereinigter Kraft und den Extremen am linken und rechten Rand ausgetragen.“

Der Standard (AT) /

Ideologische Blutarmut

Nach weit über 100 Jahren Sozialdemokratie sind viele ihrer Forderungen bereits erfüllt, werden aber von den konservativen Konkurrenten glaubhafter verwaltet, analysiert Der Standard:

„Es ist schwierig, grundsätzlich progressiv zu sein und gleichzeitig für Stabilität zu bürgen. Trifft es zu, dass ihre politischen Heilsversprechungen im Wesentlichen eingelöst sind und dies auch so bleiben soll, dann werden sie zwangsläufig zu Parteien der Enttäuschten. Die Gewerkschaften mögen - quasi reaktionär - Arbeitsrechte verteidigen, die missmutigen Wähler wenden sich trotzdem nach ganz rechts oder ultralinks ab ... Neue Narrative für neue Zeiten könnten helfen? Mag sein. Was sich bisher allerdings diagnostizieren lässt, ... ist ideologische Blutarmut. Wer aber keine Visionen hat, dem kann bald auch kein Arzt mehr helfen.“

Mérce (HU) /

Arbeiterpartei ohne Arbeiter

Den Sozialisten geht schlicht die traditionelle Basis verloren, analysiert der Publizist Szilárd István Pap auf dem Meinungsportal Kettős Mérce:

„Die erste Aufgabe der Sozialdemokratie ist seit jeher die Interessenvertretung der Arbeiterschaft gegenüber dem Kapital. Aber die an der Werkbank und am Fließband schuftende Arbeiterschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden. ... An die Stelle der industriellen Produktion ist der allumfassende Dienstleistungssektor getreten. Ganz zu schweigen von der Digitalisierung und Automatisierung. Ihnen wird Schätzungen zufolge bald die Hälfte der heutigen Arbeitsplätze zum Opfer fallen. ... Kurz: Der Sozialdemokratie ist ihre Klientel abhandengekommen.“

Spiegel Online (DE) /

SPD muss sich neu finden

Spiegel Online zufolge braucht die deutsche Sozialdemokratie jetzt Zeit, um sich zu erneuern:

„Die Entscheidung der SPD, in die Opposition zu gehen, ist richtig. Und es ist auch richtig, dass Martin Schulz sie anführen will. Die Partei hat jetzt vier Jahre Zeit, sich zu sammeln. Das tut bitter Not. Es wird viel vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters geredet. Das ist Unsinn. Die SPD wird dringender gebraucht denn je. ... Wichtig ist, dass die Partei aus ihren Fehlern lernt. [Ex-Bundeskanzler] Willy Brandt hat gesagt: 'Man muss eine Vergangenheit haben, um aus dieser Vergangenheit für die Zukunft lernen zu können.' Das Problem der SPD ist, dass sie viel zu oft aus der Vergangenheit nichts gelernt hat. Vielleicht ändert sich das jetzt.“

El País (ES) /

Die Linken auf verlorenem Posten

Mit der herben Niederlage der SPD bestätigt sich ein Trend der europäischen Linken, beobachtet El País:

„Die Sozialdemokraten, die all ihre Hoffnung auf ihren Kandidaten Martin Schulz, den ehemaligen Vorsitzenden des EU-Parlaments, gesetzt hatten, haben allen Grund sich niedergeschlagen zu fühlen: Erneut bestätigt eine Parlamentswahl - diesmal im größten und wichtigsten Land der EU - die enormen Schwierigkeiten für die Sozialdemokratie, sich zwischen den Auswirkungen der Krise von 2008 und der alles beherrschenden Identitätspolitik zurechtzufinden und dabei ein eigenes Profil und eigene Botschaften zu entwickeln.“