Was bedeutet der Gegenangriff bei Cherson?

Den Verlauf der Kämpfe im Süden der Ukraine rund um Cherson bewerten Kyjiw und Moskau ganz unterschiedlich. Die Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar. Kommentatoren sehen dennoch bereits einen Wendepunkt des Kriegs.

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Nowaja Gaseta Ewropa (RU) /

Angriff aus der Position der Schwäche

Nowaja Gaseta Ewropa erläutert die ukrainische Strategie:

„Dieser Angriff hatte einerseits schon lange begonnen, da russische Truppen immer wieder ihre Schützengräben ukrainischen Aufklärungsgruppen überlassen mussten. Andererseits hat er aber auch jetzt noch nicht begonnen, weil wir keine Panzerattacke sehen, keine hinter einer Feuerwalze vorrückenden siegreichen Kolonnen ukrainischer Panzerfahrzeuge. Denn diese hat die Ukraine einfach nicht. ... Deshalb wurde der ukrainische Vorstoß unter Berücksichtigung dieser Schwachstelle geplant. … Die 25.000 Mann starke russische Kampfgruppe auf dem rechten Dnepr-Ufer wird nicht endgültig abgeschnitten, sondern zermahlen. Auf ihre Stellungen regnet ein Schwall aus Raketen und Granaten und parallel operieren ukrainische Partisanen direkt in Cherson.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

Moskau hat keine guten Optionen mehr

Die Frankfurter Rundschau zeigt auf, was eine Rückeroberung Chersons bedeuten würde:

„Ohne Cherson verliert Russland die Kontrolle über die Wasserversorgung für die Krim. Ohne Cherson wird es nichts mit der durchgängigen Landverbindung von Luhansk bis Sewastopol. Ohne Cherson wird auch ein russischer Angriff auf das immer noch freie Odessa schwierig. ... Was will er [Putin] tun, um die Blamage abzuwenden? Irgendeine heillose, auch für Russland selbst gefährliche Eskalation wagen, etwa mit atomaren oder chemischen Waffen? Oder rasch einseitig einen Waffenstillstand verkünden in der vagen Hoffnung, dies werde als Zeichen der Stärke ausgelegt? In Wahrheit hat Putin keine guten Optionen mehr.“

The Economist (GB) /

Neue Phase des Krieges

Mit ihrer Gegenoffensive will die Regierung in Kyjiw ein Zeichen der Stärke nach innen und nach außen setzen, erklärt The Economist:

„Russland hatte seine Kontrolle der Provinz Cherson zuletzt ausgebaut, einen russischen Lehrplan in den Schulen eingeführt, den Einwohnern russische Pässe angeboten und ein Scheinreferendum vorbereitet, um die Annexion des Territoriums vorzubereiten. Ziel der ukrainischen Führung ist es, dieses Vorgehen zu unterwandern. Sie ist zudem bestrebt, sowohl ihren westlichen Partnern, die den Großteil der Waffen und der Munition liefern, als auch der eigenen Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass der Krieg gewonnen werden kann - und dass Russland tatsächlich zurückgedrängt werden kann. Die kommenden Tage und Wochen werden ein entscheidender Test dafür sein.“

De Standaard (BE) /

Putins Abwärtsspirale

Der ukrainische Gegenangriff auf Cherson könnte symbolisch zum Angriff auf Moskau werden, meint De Standaard:

„Die aufgeblasene Idee eines Groß-Russlands scheint sich nun noch mehr gegen Putin zu richten. Vielleicht hoffte er mit seiner Imperiumsidee auf einen Energieschub. Aber ein Reich, das Niederlagen erleidet und zehntausende Soldaten verliert, schafft vor allem einen Cocktail von Frustration, Apathie und Gegenkräften. In so einer Atmosphäre des Defätismus wird es für Putin nicht leicht, eine große Mobilisierung zu verkünden und aus der zahlenmäßigen Übermacht seines Landes doch noch einen großen Sieg zu machen. Eher sieht es danach aus, dass die angestauten Frustrationen zu großen inneren Spannungen führen werden, die Putin kaum noch beherrschen wird.“