Kanada: Was brachte den Liberalen den Wahlsieg?
In Kanada haben die regierenden Liberalen einen klaren Sieg eingefahren. Premier Mark Carneys Partei überholte die Konservativen und bleibt mit voraussichtlich 169 Parlamentssitzen knapp unter der absoluten Mehrheit. Carney kündigte an, die Beziehungen seines Landes zu "verlässlichen Partnern" wie Europa stärken zu wollen. Kommentatoren nehmen insbesondere die Motive der Wählerschaft in den Blick.
Stabilität plötzlich wichtiger als Veränderung
Trumps Drohungen haben die Prioritäten der Kanadier verändert, meint Newsweek Polska:
„Nicht nur für den kanadischen Nationalismus, sondern auch für den Wahlkampf der Liberalen erwies sich die Wut als ausgezeichneter Treibstoff. Denn es war vor allem Trump zu verdanken, dass die Probleme, die Trudeau zum Rücktritt zwangen – astronomische Immobilienpreise, steigende Lebenshaltungskosten, Unzufriedenheit mit zu viel Einwanderung – in den Hintergrund traten. Die Kanadier wollten keine radikalen Veränderungen mehr: Das Versprechen von Stabilität wurde wertvoller.“
Erfahrener Kapitän in stürmischen Zeiten
Carney hat nicht zuletzt mit seiner unbestrittenen Wirtschaftskompetenz gepunktet, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„In anderen Zeiten hätte es der Technokrat und wenig mitreissende Redner Carney im Wahlkampf wohl schwer gehabt. Doch nun wurde seine Expertise in Finanz- und Wirtschaftsfragen zum stechenden Trumpf. Als früherer Chef sowohl der kanadischen wie der englischen Zentralbank und zudem auch mit Erfahrung im privaten Bankensektor schien Carney vielen Kanadiern als der beste Kapitän, um Kanada durch den heraufziehenden Konflikt mit den USA zu führen. Dies umso mehr, als er sich in der Vergangenheit auch als erfolgreicher Krisenmanager hervorgetan hatte.“
Konservative wurden zu Tode geküsst
Corriere della Sera schaut auf die Verlierer der Wahl:
„Trumps Auftreten hat die politische Konfrontation polarisiert und radikalisiert. ... Aber sie lässt auch jenen einen wachsenden Raum, die immer noch auf Freihandel und Globalisierung als Chancen für Wohlstand setzen und liberale Demokratien als bessere Systeme vorschlagen. ... In den Tagen des grassierenden Populismus schien dies eine verlorene Schlacht zu sein. Jetzt ist ein Trompetenruf aus Kanada zu hören. Es ist kein Zufall, dass Carneys Sieg auf Kosten der Konservativen Partei ging, die versucht hatte, Trumps souveränistischen Slogan mit einem 'Canada first' zu kontern. ... Die Konservativen haben für den Todeskuss des amerikanischen Präsidenten bezahlt, durch den sie den Kanadiern als trojanisches Pferd einer fremden Macht erschienen.“
Linksliberale Irrwege kommen zum Ende
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung betont:
„Das Votum für den früheren Notenbanker Mark Carney war keines für die linksliberale, 'woke' Agenda, mit der sein Vorgänger Justin Trudeau gescheitert war. Carney warb für eine Begrenzung der Migration, und er schaffte als erste Amtshandlung die CO₂-Steuer ab. Das war auch ein biographischer Bruch, denn Carney war einst, wie so viele Mitglieder der westlichen Elite, ein überzeugter Klimaschützer. Trump ruft in vielen Ländern Widerstand hervor, schon alleine wegen seiner konfrontativen Außen- und Handelspolitik. Aber das sollte man nicht als neue Zustimmung für die identitäts- und migrationspolitischen Irrwege der vergangenen Jahre deuten, die auch in Deutschland den gesellschaftlichen Konsens zerstört haben. Diese Epoche ist endgültig vorbei.“
Gute Nachricht für demokratisches Europa
Die europäisch-kanadischen Beziehungen dürften nun noch enger geknüpft werden, erwartet Der Standard:
„Der Sieg von Carney und den kanadischen Liberalen ist jedenfalls eine gute Nachricht für die demokratischen Parteien Europas. Auf der Suche nach neuen Allianzen und Verbündeten ist das 'europäischste amerikanische Land' eine naheliegende Wahl. Das kanadisch-europäische Bündnis auf der Weltbühne bleibt bestehen und kann sich weiterentwickeln. Als Nato-Mitglied ist Kanadas Regierung bereit, eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung der Ukraine einzunehmen. Auch die wirtschaftliche Annäherung samt Freihandelsabkommen voranzutreiben ist für beide Seiten zentral.“
Widerstand könnte teuer werden
Auf Dauer kann sich Kanada keine Konfrontation mit den USA leisten, ist für The Times klar:
„Wenn sich die Aufregung gelegt hat, wird Carney nicht darum herumkommen, sich mit dem mächtigen Nachbarn zu arrangieren. Eine vollständige Abkoppelung ist schlichtweg unmöglich. Nach einem Jahrzehnt der Stagnation unter Herrschaft der Liberalen hinkt Kanadas Pro-Kopf-Einkommen dem US-amerikanischen im Gegensatz zu früher weit hinterher. Ein langwieriger Handelskrieg würde die bereits schwierigen Lebensumstände der Kanadier weiter verschlechtern. Das von Carney geäußerte bedenkliche Ziel, die Staatsverschuldung durch weitere Kredite zu erhöhen, würde das nur etwas abmildern. Widerstand hat seinen Preis.“