Italien: Zensurvorwürfe gegen die Regierung

In Italien ist der Schriftsteller Antonio Scurati kurzfristig aus einer Sendung der öffentlich-rechtlichen RAI ausgeladen worden. Scurati hätte zum Jahrestag der Befreiung Italiens vom Faschismus am 25. April einen Text vortragen sollen, in dem er Giorgia Meloni mangelnde Distanzierung von ihrer "postfaschistischen Vergangenheit" vorwirft. Kommentatoren sehen ein Symptom für problematische Entwicklungen über den Einzelfall hinaus.

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La Repubblica (IT) /

Eine europäische Wunde

Der Chefredakteur von La Repubblica, Maurizio Molinari, ist äußerst besorgt:

„Das Verbot der Meinungsäußerung eines Schriftstellers, eines jeden Bürgers, durch eine Regierung ist ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit, eine Säule der Rechtsstaatlichkeit, die durch die EU-Verträge geschützt und durch die Verfassungen unserer Länder proklamiert wird, und gegen ein Grundrecht jedes Menschen. Deswegen ist die Zensur Scuratis nicht nur ein italienischer Fall, sondern auch eine europäische Wunde. Wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen eines EU-Landes nicht alle Meinungen zeigt, sondern eine bestimmte auswählt, dann ist das ein Problem für alle. ... Leider ist Italien weder das einzige noch das erste EU-Land, in dem die Exekutive über ihre Befugnisse hinausgeht, um unerwünschte Stimmen zum Schweigen zu bringen.“

Mediapart (FR) /

Offensichtlicher Kampf um Meinungskontrolle

Nicht nur bei der RAI ist die Lage problematisch, warnt Mediapart:

„Die neue Regierung hat viele ihr nahestehende Personen in die Führungsetage der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt berufen. Das Budget wurde um 150 Millionen Euro gekürzt, was ab dem 17. April zu einem fünftägigen Streik der Mitarbeiter führte. ... Die Frage der Pressefreiheit geht jedoch über den Fall des öffentlichen Fernsehens hinaus. Die private Nachrichtenagentur AGI ist nun ins Visier des Lega-Abgeordneten Antonio Angelucci geraten, dem bereits verschiedene Zeitungen, darunter Il Giornale und Libero, gehören. Die extreme Rechte führt einen wahrhaften Kulturkampf und in Melonis Italien ist der Kampf um die Kontrolle der Medien mittlerweile offensichtlich.“

De Standaard (BE) /

Langsame Erosion demokratischer Werte

Die Vorfälle in Italien sollten eine Warnung für ganz Europa sein, mahnt De Standaard:

„Weil Zensur eines Intellektuellen oder eines Schriftstellers durch öffentliche Medien und politische Autoritäten für eine Demokratie inakzeptabel ist. Weil dieser beispiellose Vorfall zeigt, was in vielen europäischen Ländern geschieht, sobald Parteien an die Macht kommen, die die Meinungsfreiheit und damit den Rechtsstaat einschränken. ... Aus Scuratis Sicht droht nicht die Machtübernahme durch eine Diktatur wie vor 100 Jahren. ... Dieses Mal kommt die Gefahr durch die 'langsame, tägliche und allmähliche' Erosion der Fundamente der Demokratie, von der die Zensur, die ihm widerfuhr, ein weiterer Vorbote ist.“

El País (ES) /

In großen Schritten hin zur Illiberalität

Mehr als tausend Intellektuelle fordern in El País angesichts eines Verfahrens gegen den Altphilologen Luciano Canfora, der Meloni als "Neonazi im Herzen" bezeichnet hatte, das Ende des Kulturkampfes:

„Weit entfernt von dem gemäßigten Bild, das sie international vermittelt, versucht Meloni, ihre Ideologie mit großen Schritten durchzusetzen. Sie will Italien an das illiberale Modell Polens und Ungarns heranführen. ... Diese Politik basiert auf einer Kulturpolitik, die nicht einmal vor einer Zeichentrickserie wie Peppa Pig halt macht (in einer Folge wurde ein junger Eisbär von einem lesbischen Paar aufgezogen). ... Laut Gianmarco Mazzi, Staatssekretär für Kultur, geht es darum, 'das Narrativ des Landes zu verändern'. Verschiedene Gegenkräfte sind im Visier: öffentliche Medien, Kultureinrichtungen, Star-Moderatoren, investigative Journalisten und natürlich Intellektuelle. ... Canfora ist das nächste Ziel.“