Brigitte Bierlein wird Interimskanzlerin in Wien

Österreichs Präsident Alexander Van der Bellen hat eine Frau zur Interimskanzlerin ernannt. Brigitte Bierlein, zuletzt Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, ist die erste Kanzlerin in Wien und soll bis zur Wahl im September einer Übergangsregierung vorstehen. Die Entscheidung stößt in den Medien auf Zuspruch - wobei einige Österreichs Problem ganz woanders sehen als in der Frage der Kurz-Nachfolge.

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Süddeutsche Zeitung (DE) /

Genau die richtige Frau für diese Zeit

Der Bundespräsident hat eine gute und kluge Wahl getroffen, lobt die Süddeutsche Zeitung:

„Er hat eine Frau berufen. Ein starkes und längst überfälliges Signal, denn im Jahr 2019 sollte eine Kanzlerin auch im konservativen Österreich kein Novum mehr sein. Er hat mit Bierlein aber auch jemanden ausgewählt, der sowohl der ÖVP als auch der FPÖ nahe steht und somit die rechtskonservative Mehrheit im Parlament hinter sich vereinen kann. ... Das Land braucht nun jemand unaufgeregten, versierten und erfahrenen an der Spitze. Jemanden, der nicht wie der abgewählte Kanzler Sebastian Kurz oder die anderen Parteichefs die nächsten Monate im Wahlkampfmodus sein wird. Jemanden, der Ruhe ins Land bringt. Brigitte Bierlein dürfte genau die Kanzlerin sein, die Österreich jetzt braucht.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Garantin für Harmonie

Auch Gazeta Wyborcza verspricht sich viel von Bierlein:

„Die neue Kanzlerin hat einerseits sehr konservative Ansichten. Andererseits stellte sie sich vergangene Woche den Plänen des FPÖ-geführten Innenministeriums entgegen, präventiv Asylbewerber zu verhaften. Auch das durch Kanzler Kurz eingeführte Verbot, das Gesicht zu verdecken, gefiel ihr nicht - das, wie sich herausstellte, nicht konservative muslimische Frauen trifft, aber Wiener, die sich im Winter auf dem Fahrrad mit einem Schal im Gesicht gegen die Kälte schützen. Ihr Vorteil ist also, dass sie nun für Harmonie sorgen kann. Auch im Verfassungsgericht unterhielt sie ausgezeichnete Beziehungen zu allen Richtern.“

Wiener Zeitung (AT) /

Wo bitte ist die Staatskrise?

Diese Wochen zeigen, wie sehr die politische Klasse in Österreich sich selbst überschätzt, glaubt Christian Ortner, Kolumnist der Wiener Zeitung:

„Bei auch nur leidlich kühler Betrachtung war und ist das Land von einer Krise, gar einer Staatskrise so weit entfernt wie eh und je. In Wirklichkeit erfüllten und erfüllen die Verfassungsorgane ihre Funktionen ohne jegliches Problem. … Sichtbar wird hier in erster Linie eine ziemlich üppige Selbstüberschätzung der politisch-medialen Klasse, die von ihrer eigenen Bedeutung in einem Maße ergriffen ist, das mit der Wirklichkeit nicht ganz korreliert. Denn für ganz normale Menschen, die tagein, tagaus ins Büro oder in die Fabrik gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und mit ihren Steuern den Staat und seine Funktionäre am Leben zu erhalten, ist das Kommen und Gehen der Obrigkeiten von überschaubarer Relevanz.“