Politisches Erdbeben in Thüringen: Wie weiter?

Die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Regierungschef Thüringens durch Liberale, CDU und AfD hat das politische Deutschland erschüttert. Nachdem Kemmerich zurückgetreten ist, ist nun der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken bereit, erneut zu kandidieren. Für Beobachter aus dem Ausland ist der Umgang der deutschen Politik mit dem Wahleklat symptomatisch.

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Lidové noviny (CZ) /

Schwarz-Weiß-Denken auf beiden Seiten

Die Versuche der Aufarbeitung des politischen Erdbebens in Thüringen offenbaren nach Meinung von Lidové noviny ein zerrissenes Deutschland:

„Als Bundeskanzlerin Merkel die Wahl Kemmerichs als 'unverzeihlich' bezeichnete, die rückgängig gemacht werden müsse, bekam sie Beifall von Politik und Medien. Jenseits des Mainstreams gab es aber auch Reaktionen, die Merkel Verfassungswidrigkeit vorwarfen. ... Für die einen besteht der politische Hauptschaden darin, dass die AfD ihre Legitimität stärken konnte. Für die anderen im Aufruf der Kanzlerin, die formal korrekte Wahl rückgängig zu machen. Diese Zerrissenheit, diese unterschiedliche Wahrnehmung ein- und desselben Ereignisses und die Reaktionen darauf sind möglicherweise ein größeres Risiko für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, als der Erfolg der AfD. Man fühlt sich an Weimar vor 90 Jahren erinnert.“

El País (ES) /

Vorbildliches Korrektiv

In Spanien, wo in mehreren Regionen konservativ-liberale Koalitionen von der rechtsextremen Partei Vox abhängig sind, schaut man dieser Tage genau nach Deutschland. El País kommentiert:

„Bundeskanzlerin Merkel hat durch ihr vorbildliches Einschreiten demokratisches Verständnis bewiesen. ... In einer Demokratie können sehr unterschiedliche oder sogar miteinander inkompatible Ideen zusammenleben. Aber alle eint der Respekt gegenüber den Spielregeln, alle achten die Demokratie. Und das ist der Unterschied zu anderen Kräften, die die Demokratie in Frage stellen und ihre Mechanismen nutzen wollen, um die Macht zu erlangen. Dass sie das verstanden haben, haben die demokratischen Politiker in Deutschland bewiesen.“

Lidové noviny (CZ) /

Ausgrenzung der AfD ist kontraproduktiv

Eine Spirale, die nicht mehr zu stoppen ist, erkennt hingegen Lidové noviny:

„Die AfD ist eine Risiko-Partei, extrem und für traditionelle Konservative unannehmbar. Noch mehr in Thüringen, wo sie vom besonders radikalen Björn Höcke geführt wird. Doch was passiert, wenn es dort nun Neuwahlen geben sollte? ... Bei der jüngsten Wahl räumten die Linke und die AfD zusammen 54 Prozent ab, was Deutschland immer weiter in eine anhaltende Spirale geraten ließ: Erst gibt es keine Mehrheit mehr für eine linke oder eine konservative Koalition. Dann - wie in Sachsen - keine Mehrheit mehr für eine Große Koalition. Und danach ohne Hilfe der AfD nicht einmal mehr eine rechte Minderheitsregierung. Wie weiter? Indem man die AfD noch weiter ausgrenzt, was ihr nur weitere Wähler bringt?“

Deutsche Welle (RO) /

Viel Lärm um nichts

Nicht nachvollziehen kann die Aufregung um die Wahl Kemmerichs der rumänische Dienst der Deutschen Welle:

„Das politisch korrekte Deutschland empört sich heftig über die folgerichtige Wahl eines liberalen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der rechten Parteien. ... Sie bilden zusammen eine Mehrheit, die einige Spitzenkräfte aus Gründen der kognitiven Dissonanz ignorieren und ablehnen. ... Denn diese Mehrheit würde die unliebsamen Rechtspopulisten von der AfD umfassen. Und so sind wir in der abstrusen Situation, in der Christdemokraten eher einem Regierungschef der Linken, also der Ex-SED, wieder an die Macht helfen, als einen Liberalen zuzulassen. ... Wofür hätten sich die CDU-Abgeordneten in Erfurt denn entscheiden sollen? Für eine postkommunistische Regierung, der Thüringens Wähler ihr Vertrauen entzogen haben? Also dafür, das Wahlresultat und den Volkssouverän zu verachten?“

Der Standard (AT) /

Perfider Angriff der Demokratiefeinde

Es geht im Fall Thüringen weniger um die Frage, ob die Brandmauer gegen die AfD löchrig geworden sei, erklärt Der Standard:

„Man muss kein begabter Demagoge sein, um derlei Bedenken als Missachtung eines normalen demokratischen Vorgangs vom Tisch zu wischen. Daher lohnt ein zweiter Blick auf die Abstimmung selbst: Nein, es ist kein normaler demokratischer Vorgang, wenn die AfD-Fraktion einen Fake-Kandidaten aufstellt, dann aber den Kandidaten einer Fünf-Prozent-Partei zum Regierungschef wählt, um sich über die Hintertür als Königsmacherin zu stilisieren. Was rechtlich korrekt ist, kann dennoch eine politische Farce sein. Genau damit kokettieren die Feinde der Demokratie - und greifen so das System an. Das hat man nun auch in Erfurt erkannt. Spät, aber doch.“

Tageblatt (LU) /

Mit einem Faschisten an die Macht

Das Tageblatt ist entsetzt:

„Es ist ein Tabubruch. Gerade die AfD in Thüringen gilt als besonders radikal. Ihr Fraktionschef Björn Höcke ist ein Faschist. Das darf man so sagen, das hat ein Gericht geurteilt. Demnach: Die CDU und die FDP schmieden zusammen mit einem Faschisten und seiner Partei ein Bündnis, um selber an die Macht zu kommen. Der Faschist und seine Partei nennen dieses Bündnis am liebsten 'bürgerliches Bündnis', weil der Faschist und seine Partei sich schließlich selber gerne als 'bürgerliche' Partei bezeichnen. Mit ihrem verantwortungslosen, nur auf kurzfristigen Eigennutz ausgerichteten Handeln haben Konservative und Liberale in Thüringen ihrem faschistischen Partner demnach einen Gefallen von noch unschätzbarem politischem Wert gemacht.“

Rzeczpospolita (PL) /

Die Quarantäne ist aufgehoben

Jetzt kann auch in Deutschland eine rechtspopulistische Partei Fuß fassen, kommentiert Rzeczpospolita:

„Die Entscheidung der Regionalpolitiker der FDP und der CDU wird sich auf die bundesweite politische Landschaft auswirken. Das schwarze Szenario der deutschen Eliten hat sich erfüllt: Die der einwanderungsfeindlichen und euroskeptischen AfD auferlegte Quarantäne ist gebrochen, weil sich die Landespolitiker traditioneller rechter Parteien (CDU und FDP) den Parteizentralen widersetzt haben, welche versprachen, niemals eine Allianz mit der AfD einzugehen. Tatsächlich sind sie diese Allianz sehr schnell und problemlos eingegangen.“

Zeit Online (DE) /

Skrupellos wie die US-Republikaner

Zeit Online diagnostiziert eine moralische Verrohung der konservativen Eliten:

„Für was steht ein Konservatismus, der mit Höcke kooperiert, um Ramelow wegzubekommen, außer für eine Skrupellosigkeit, die man von den US-Republikanern kennt? Man hatte sich fast schon an die falsche konservative Behauptung gewöhnt, AfD und Linkspartei seien gleichermaßen gefährliche Parteien. Dass CDU und FDP nun indirekt der AfD sogar den Vorzug vor den Linken geben, das ist eine historische Grenzüberschreitung. Man wird womöglich darum kämpfen müssen, ihre ostdeutschen Verbände im Lager der Demokraten zu halten. Beide Parteien stehen zumindest im Osten nicht mehr für die gesellschaftliche Mitte. So einfach und so bitter ist das.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Das ist Demokratie

Dass Thomas Kemmerich auch mit AfD-Stimmen gewählt wurde, empfindet die Neue Zürcher Zeitung nicht als Makel:

„Das ist Demokratie! Was im Erfurter Landtag stattgefunden hat, ist eine freie Wahl, und darüber hinaus hat ein liberaler und bürgerlicher Kandidat diese Wahl gewonnen. Es gibt keinen plausiblen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen. Im Gegenteil, es ist geradezu irritierend, wenn man sieht, wie sich bürgerliche Politiker von der Union und der FDP genieren und sich öffentlich von ihren Thüringer Kollegen distanzieren. Anders läge der Fall, wenn Kemmerich nun mit dem Thüringer AfD-Chef eine Regierung anstreben würde. Aber er hat sich von Björn Höcke und dessen Partei eindeutig und unmissverständlich distanziert. Er peilt in Thüringen eine Minderheitsregierung mit der CDU an. Dass er sich von der AfD wählen liess, um seine politischen Ziele zu verfolgen, ist kein Makel.“

Le Temps (CH) /

Weder SPD noch Merkel dürfen sich nun verstecken

Politologe Gilbert Casasus erwartet aus Berlin nun klare Reaktionen. Er schreibt auf seinem Blog bei Le Temps:

„In solchen Momenten müssen die Demokraten, die dieser Bezeichnung würdig sind, Größe beweisen. Die Sozialdemokraten müssen damit drohen, auf Bundesebene aus der Koalition mit einer Partei auszusteigen, die sich dafür entschieden hat, ihre Stimmen mit denen der extremen Rechten zu vereinen, sei es auch nur für die Wahl einer Landesregierung. Die SPD sollte an die Öffentlichkeit treten und ihren Koalitionspartner, die CDU, der Unterwerfung unter die AfD beschuldigen. … Erwartungen gibt es aber auch an Angela Merkel. Sie darf nicht schweigen. Tut sie es doch, muss sie sich der weitgehend gerechtfertigten Kritik aussetzen, am 5. Februar 2020 nicht auf der Höhe der Zeit gewesen zu sein, um die Verwundung des Herzens des demokratischen Lebens ihres Landes rechtzeitig anzuprangern.“