Parasite schreibt Oscar-Geschichte

Der Film Parasite und sein Regisseur Bong Joon-ho sind die großen Gewinner der Oscar-Nacht 2020. Erstmals in seiner Geschichte ging der bekannteste Filmpreis der Welt in der Hauptkategorie Bester Film an eine nicht englischsprachige Produktion. Europäische Medien fragen sich, ob die politische Botschaft hinter der Wahl überhaupt ankommt und wie Netflix und Co. das Filmegucken verändert haben.

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Mérce (HU) /

Nur oberflächliche Kritik an den Verhältnissen

Erfolgreiche Filme wie Parasite, Joker oder Wir gehen in ihrer Kritik der gesellschaftlichen Hierarchie nicht weit genug, meint Mérce:

„Zwar reflektieren alle drei Filme die schädlichen und entmenschlichenden Folgen der gesellschaftlichen Ungleichheiten - die Ausbeutung und die Mechanismen der Reproduktion dieser Ungleichheiten liegen aber außerhalb des Horizonts der Filmemacher. Die Ungleichgewichte, die im Hintergrund der Geschichte wirken, und die Klassenverhältnisse sind in diesen Produktionen einfach nur gegeben. ... Sie können - wie die Filme warnen - zwar zu Anarchie führen, falls man sie nicht richtig behandelt. ... Selbst aber können sie nicht Gegenstand der Kritik sein. Obwohl diese Filme also für ein radikales egalitäres Programm zu plädieren scheinen, reproduzieren sie in Wirklichkeit die Ideologie der Unveränderlichkeit und Unbestreitbarkeit der bestehenden Verhältnisse.“

Kathimerini (GR) /

Vergeblicher Öffnungsversuch

Auch Kathimerini sieht in der Entscheidung für den Oscar einen politischen Schritt - ohne Wirkung vor der eigenen Haustür:

„Die einfache - und weithin akzeptierte - Erklärung ist, dass die herrschenden Kreise in der amerikanischen Kultur-Schwerindustrie die antikapitalistische Botschaft von 'Parasite' aufgreifen und sie in den USA verbreiten. ... Allerdings: Was Amerikas künstlerische Elite antreibt, bleibt für das amerikanische Hinterland unsichtbar. Hollywood ist den Intellektuellen von Seoul näher als Kansas. Ebenso ist New York näher an Berlin als an Alabama. Die amerikanische Kultur, die sich gerührt von fremden Werken ungeachtet der Hautfarbe oder Sprache ihrer Schöpfer der Welt öffnet, erlebt ihre Niederlage bei den Wahlen. Sie ist eine Zivilisation, die ihre Verwandten anderswo hat, derweil man sich in ihrer Wiege darauf vorbereitet, sie in wenigen Monaten erneut zu besiegen.“

NRC (NL) /

The Irishman funktioniert nur im Kino

Der zuvor favorisierte Netflix-Film The Irishman ging überraschend leer aus. Für NRC Handelsblad ist das Medienunternehmen daher der große Verlierer:

„Netflix reduziert die Reibung zwischen Zuschauern und Film. Ein Kinobesuch heißt Mühe, Kosten, Irritation. Radfahren im Regen. Karte kaufen - Mist, ausverkauft! Kichernde und Popcorn futternde Nachbarn. ... Nein, dann lieber Netflix. Immer und überall verfügbar. Tasse Tee? Einfach auf Pause stellen. Zu schwierig? Anderer Film. Diese Bequemlichkeit wird Meisterwerken wie The Irishman schnell zum Verhängnis. Sie erfordern Aufmerksamkeit, Geduld, eine Ansammlung von Eindrücken. Der Lohn dafür ist eine einzigartige Erfahrung. ... Das 'Format' Netflix ist schlecht geeignet für The Irishman. “

Wedomosti (RU) /

Die Kinowelt wird endlich international

Von einer verdienten Auszeichnung spricht Wedomosti:

„Parasite ist ein sehr guter, lustiger, sarkastischer, stellenweise rührender und äußerst kluger Film. Zur Komödie wurden noch einige andere Genres hinzugepackt - und Bong mischt sie mit der Geschicklichkeit eines Zauberkünstlers. Das koreanische Kino, das schon Anfang der Nullerjahre Europa eroberte und nun endlich auch in Amerika Anerkennung findet, sollte heute nicht nur zuhause gefeiert werden, sondern überall, auch in Russland. Denn könnten nicht auch wir jetzt einen Haupt-Oscar gewinnen? ... Die englische Sprache hat ihr Monopol nicht mehr. Und zufällig wurde dieses Jahr auch die gewohnte Oscar-Kategorie 'Bester fremdsprachiger Film' in 'Best International Feature Film' umbenannt - sie ist also nicht mehr ausländisch, sondern international.“

Spiegel Online (DE) /

Ein Fanal gegen Trumps Isolationismus

Die Academy hat sich bei ihrer Entscheidung nicht wieder von Nostalgie leiten lassen, freut sich Der Spiegel:

„Sie hätte, wie im letzten Jahr, den historischen Feelgood-Film gewinnen lassen können, in einer Art perverser Analogie zu Donald Trumps 'Make America Great Again'-Narrativ, das ja letztlich auch nur von einer besseren Vergangenheit träumt, die eine romantische Fiktion ist. Aber die Oscar-Voter, unter denen nach der vor Kurzem begonnenen Öffnung für mehr Diversität und Internationalität diesmal mehr Frauen, Afroamerikaner, Hispanics und Filmschaffende aus aller Welt waren, haben sich für eine dringliche Gegenwartserzählung aus Südkorea entschieden - und damit für jene kulturelle Vielstimmigkeit und globale Multilateralität, die der US-Präsident so vehement ablehnt. Der Sieg von 'Parasite' ist auch ein Fanal gegen den von Trump und seinen Anhängern betriebenen Isolationismus.“