Türkei: Kann Kılıçdaroğlu gegen Erdoğan gewinnen?

Das türkische Oppositionsbündnis aus sechs Parteien hat sich auf CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten verständigt. Zuvor war die Allianz am Wochenende an dieser Frage noch fast zerbrochen. Kommentatoren prüfen die Aussichten des Kandidaten.

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Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Der richtige Mann zur richtigen Zeit

Kılıçdaroğlu würde die Türkei zur Demokratie zurückführen, ist die Neue Zürcher Zeitung überzeugt:

„Zwar ist Kilicdaroglu dem Volkstribun Erdogan auf der Bühne nicht gewachsen, aber er ist ein mutiger, souveräner Redner, der vor scharfen Angriffen auf Erdogan nicht zurückschreckt. In der turbulenten türkischen Politik hat er Unbeugsamkeit und Ausdauer bewiesen. … Selbst seine Gegner bestreiten nicht, dass Kilicdaroglu bescheiden und ehrlich ist. Sollte er zum Präsidenten gewählt werden, gibt es wenig Zweifel, dass er die Türkei tatsächlich wie versprochen zum parlamentarischen System zurückführen und das Präsidentenamt wieder in eine repräsentative Funktion umwandeln wird. … [Die Opposition] muss den Türken klarmachen, dass es am Ende nicht um Personen geht, sondern um die Zukunft der Türkei.“

News.bg (BG) /

Kein Wahlgewinner

Dem Oppositionsführer fehlt es an Charisma, analysiert news.bg:

„Kılıçdaroğlus Hauptproblem ist, dass er die Menschen einfach nicht inspiriert. Er trägt nicht das politische Virus in sich, das die Bürger ansteckt und sie zu Wählern macht. Seit er 2010 Vorsitzender der CHP wurde, hat er eine berüchtigte Niederlagenserie gegen die Präsidentenpartei AKP hinnehmen müssen. Die Kehrtwende erfolgte erst bei den Kommunalwahlen vor vier Jahren. Aber damals haben die Wähler nicht für Kılıçdaroğlu gestimmt, sondern für andere Politiker aus der Partei wie İmamoğlu und Yavaş. ... Kemal ist definitiv kein Atatürk. Dafür ist er sicherlich der begehrteste Gegner für Recep Tayyip Erdoğan.“

Habertürk (TR) /

Den Kurden die Hand reichen

Die Journalistin Nagehan Alçı kritisiert in Habertürk die Aussage der Chefin der İYİ-Partei, die kurdennahe HDP zwar treffen, aber ihre Forderungen nicht aufs Tapet bringen zu wollen:

„Wenn die Regierungsfront Druck ausübt, wird die İYİ-Partei ihre harsche HDP-Rhetorik fortsetzen. Ich glaube nicht, dass es da Kompromisse geben wird. In diesem Fall dürfte es nicht einfach sein, die HDP-Wähler zu motivieren, für Kılıçdaroğlu zu stimmen. Vernünftig wäre, dass die Führer ihre HDP-Strategie überarbeiten. Aber wir haben in der Kandidaten-Frage gesehen, dass sich der [Sechser-Bündnis-]Tisch weigert, über die umstrittensten Themen zu sprechen. Ich bin daher nicht sicher, ob er an einer gemeinsamen HDP-Strategie arbeitet und sich auf eine einigt.“

In (GR) /

Der Präsident sollte schon mal Koffer packen

Für In.gr gibt es viele Anzeichen, dass sich die Wählerinnen und Wähler in der Türkei gegen Erdoğan stellen werden:

„Das Bild, das sich für den türkischen Präsidenten abzeichnet, wird von Tag zu Tag düsterer. Soweit die Umfragen überhaupt einen Wert haben, haben sie ihm bereits gesagt, dass er in seinem Palast in Ankara die Koffer packen sollte. Und die Umfragen sind nicht die einzigen, die ihm das sagen: Sogar in den türkischen Stadien, bei den Spielen der großen Fußballmannschaften, rufen die Fans jetzt Parolen, nicht für ihre Mannschaften oder gegen ihre Gegner, sondern allesamt gegen die Regierung. Der Mann befindet sich in einem Zustand, der für einen Kandidaten vor der Wahl nicht schlimmer sein könnte.“

Karar (TR) /

Gemeinsam für eine bessere Demokratie

Die Versöhnung bereitet den Weg für ein neues politisches System, urteilt Journalist Taha Akyol in der konservativen Tageszeitung Karar:

„Falls diesmal die 'Nationale Allianz' an die Macht kommt, werden wir es nun mit einer 'multiplen Führung' versuchen, die ihr Aktions- und Reformprogramm schon im Vorhinein festgelegt hat. ... Aus diesem Blickwinkel halte ich Kılıçdaroğlu für den richtigen Namen. Seit 2018 hat er die Zusammenarbeit geübt. Ich hoffe, dass er nicht wie Erdoğan der Leidenschaft verfällt, die Verwaltung zu personalisieren, sich dem Populismus zuzuwenden und seine Macht zu maximieren, mit dem Ehrgeiz, immer noch eine Wahl mehr zu gewinnen. ... Wenn Kılıçdaroğlu doch dem Rausch der Macht verfallen sollte, kann er von anderen Parteichefs durch 'Checks and Balances' gestoppt werden.“