Ukraine-Krieg: Welche Bedeutung hat Bachmut?

Ob Russland das seit neun Monaten umkämpfte Bachmut ganz eingenommen hat, wie es Wagner-Chef Prigoschin am Wochenende vermeldete, bleibt unklar. Die Ukraine hatte der Darstellung widersprochen und meldete am Montag erneut mehrere Gefechte an der dortigen Frontlinie. Kommentatoren nehmen die widersprüchlichen Aussagen zum Anlass für eine Einordnung der besonders intensiven Kämpfe um die Stadt im Donbass.

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Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Wie in einer längst überwunden geglaubten Zeit

Die Neue Zürcher Zeitung ist immer noch perplex angesichts der Brutalität der Kämpfe rund um Bachmut:

„Der Kampf um Bachmut war eine Schlacht, die man so nicht mehr für möglich gehalten hatte. Russische Infanteristen stürmten aus ihren Schützengräben in 'menschlichen Wellen' solange in den Tod, bis die Verteidiger überrannt waren. Diese Art der Kriegsführung mit manchmal mehreren hundert Todesopfern pro Tag hatte nach der Meinung vieler Militärexperten eigentlich der Vergangenheit angehört. Sie irrten. Auch im 21. Jahrhundert ist die Fratze des Krieges so hässlich wie eh und je. ... Mit einer unnachgiebigen Brutalität ... hat Russland die Eroberung erreicht. Für Kiew ist das ein bitterer Rückschlag.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Russland kann den Erfolg gar nicht nutzen

Für Tygodnik Powszechny ist die Einnahme Bachmuts ein Pyrrhussieg:

„Auch die ukrainische Seite hat zweifellos schwere Verluste erlitten, nach Ansicht mancher nur geringfügig weniger als die russische Seite, aber offenbar war das Ziel das Opfer wert. Denn nach neun Monaten dieses 'Fleischwolfs' (wie die Russen offen und die Ukrainer im Stillen sagen) dürfte die russische Seite nicht mehr über genügend Kräfte verfügen, um die Einnahme der Stadt zu nutzen und einen neuen Angriff auf Kramatorsk und Slowjansk zu starten, um auch nur das Minimalziel der von Putin im Februar 2022 erklärten Eroberung des gesamten Donbass zu erreichen.“

Kirill Rogov (RU) /

Aktives Kampfgeschehen als Druckmittel

Der zähe Abwehrkampf in Bachmut hat der Ukraine insgesamt genützt, schreibt der Journalist Kirill Rogow auf Facebook:

„Die Ukraine hat den Westen von der Notwendigkeit überzeugt, ihr moderne Luftabwehrsysteme und - weitaus wichtiger - modernes schweres Gerät für Bodenoperationen zu liefern, ihre Soldaten im Umgang damit zu schulen, und hat die Lieferung abgewartet. Hätten die Ukrainer all dies erreichen können, wenn es in diesen Monaten keine aktiven Kämpfe gegeben hätte? Vielleicht. Aber Ruhe an der Frontlinie hätte das Ukraine-Thema abgekühlt und der 'Waffenstillstandspartei' im Westen Auftrieb gegeben. Angesichts eines abflauenden Konflikts schwere Waffen zu liefern, hätte als Idee weit weniger überzeugend gewirkt.“

Eesti Päevaleht (EE) /

Opfer der eigenen Propaganda

Der Historiker Olaf Mertelsmann analysiert in Eesti Päevaleht die Bereitschaft, so große Opfer für eine unbedeutende Kleinstadt zu bringen:

„Für beide Seiten dürfte der symbolische und propagandistische Wert größer sein als die taktische oder strategische Bedeutung. ... Die russische Seite ist sicherlich in die Falle getappt, Bachmut zu einem wichtigen Propagandathema zu machen. Dann ist man gezwungen, Soldaten auch dann noch zu opfern, wenn es nichts mehr zu gewinnen gibt. Ein historisches Beispiel dafür ist die Schlacht von Stalingrad. Die Stadt war sowohl für Stalin als auch für Hitler von großer propagandistischer Bedeutung. ... Die Kämpfe haben bis zu einer Million Soldaten und Zivilisten das Leben gekostet. ... Dabei waren die deutschen Anstrengungen völlig sinnlos geworden, da die 6. Armee eingekesselt war.“

NV (UA) /

Krieg ist für Prigoschin ein Geschäft

Der Wagner-Chef kämpft für seine eigenen Ziele, nicht für Russland, argumentiert Olexi Melnik vom Thinktank Razumkov Centre in NV:

„Für Prigoschin ist der Krieg ein Geschäft und Bachmut ist sein Businessprojekt. Es heißt, er habe große politische Ambitionen. Vielleicht, aber für ihn ist Macht auch und vor allem ein Instrument zum Schutz und zur Vergrößerung seines Geschäfts. Mit der Umsetzung des 'Bachmut-Projekts' arbeitet der Geschäftsmann Prigoschin ausschließlich für seine eigenen Ziele. ... Prigoschin interessiert sich nicht dafür, ob sein Handeln mit dem Gesamtplan oder militärischen Zweckmäßigkeitskriterien übereinstimmt, was wahrscheinlich einer der Gründe für seinen Konflikt mit General Gerassimow ist.“