Wohin führt Erdoğan die Türkei?

Nach der Wahl in der Türkei diskutiert Europa, wie Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit der wiedererlangten Macht seiner Partei umgehen wird. Einige Kommentatoren fürchten, dass er seine Schlüsselposition in der Flüchtlingspolitik gegenüber der EU ausnutzen wird. Andere hoffen, dass er seine Politik mäßigen und dem Land damit einen Wirtschaftsaufschwung bringen wird.

Alle Zitate öffnen/schließen
Dagens Nyheter (SE) /

Gefährlicher Machtzuwachs für Erdoğan

Mit dem Wahlerfolg der AKP erhält das Machtstreben von Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen weiteren Schub, glaubt die liberale Tageszeitung Dagens Nyheter: "Die Presse- und Meinungsfreiheit ist bereits beschnitten worden, und es besteht das Risiko, dass der Druck auf die Medien noch erhöht wird. Die AKP wird die Kontrolle über Gerichte und Polizei nicht aufgeben. Die Ermittlungen zu dem großen Korruptionsskandal im Umkreis der Regierung können wohl für tot erklärt werden. Erdoğans Macht kennt kein Gegengewicht mehr. Was die Kurdenfrage betrifft, scheint die Wahlstrategie des Präsidenten aufgegangen zu sein, aber der Preis ist hoch. Nicht nur die PKK, sondern auch große Teile der kurdischen Bevölkerung werden es schwer haben, der Regierung zu vertrauen, auch wenn nach der Wahl Friedenssignale gesendet werden. ... Erdoğan hat seine Macht erweitert, aber das Land gespalten. Die versprochene Stabilität wird eine Utopie bleiben, die Gefahr des Chaos ist umso aktueller."

Avvenire (IT) /

Türkischer Präsident hat die EU in der Hand

Nach dem Sieg der AKP wird die EU Präsident Erdoğan unter dem Druck der Flüchtlingskrise weitere Zugeständnisse machen, prophezeit die katholische Tageszeitung Avvenire: "Brüssel ist sich darüber im Klaren, dass Erdoğan in Kürze seine Bedingungen in die Waagschale werfen wird: Milliardenhilfen, Visa-Liberalisierungen, Dynamisierung der EU-Beitrittsgespräche, die seit einigen Monaten bei zu vielen Kapiteln stocken. Was er mit den mehr als zwei Millionen syrischen und afghanischen Flüchtlingen macht, die in der Türkei geparkt sind - darüber wird Erdoğan auch abhängig vom Verhalten der EU entscheiden. ... Das wissen die europäischen Führungskräfte nur zu gut, allen voran Angela Merkel. Ob er sie weiter festhält, ob er sie nach und nach ausreisen lässt oder aber, ob er sie massenweise in Richtung der griechischen Landesgrenzen treibt und auf die Inseln in der Ägäis: Europa wird in seinem verzweifelten Wunsch nach Stabilität ein oder gar beide Augen zudrücken angesichts des Despotismus dieses Machthabers."

Tages-Anzeiger (CH) /

Ein Kurswechsel ist nicht ausgeschlossen

Jetzt, da Erdoğans Machthunger befriedigt wurde, könnte seine Politik wieder gemäßigter ausfallen, glaubt der linksliberale Tages-Anzeiger: "Auch ohne die von ihm angestrebte Verfassungsänderung hat Recep Tayyip Erdoğan seine Macht gerade zementiert. Er kann ein hemmungsloser Pragmatiker sein, wenn er sich davon einen Nutzen verspricht. Frieden mit den Kurden wäre ein historisches Vermächtnis. Die Flüchtlingskrise eröffnet ihm die Chance, sein Land auf Augenhöhe an die Europäische Union heranzuführen. Mit mehr als zwei Millionen Flüchtlingen im Land fällt der Türkei eine Schlüsselrolle zu. Auch wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht: Mit dem Wahlsieg hat auch Erdoğan eine Chance bekommen, sich noch mal zu ändern. An die Macht klammern muss er sich jedenfalls im Moment nicht."

L'Echo (BE) /

Sultan sollte sich auf Wirtschaft konzentrieren

Viele türkische Wähler haben der islamisch-konservativen AKP von Präsident Erdoğan am Sonntag ihre Stimme aus Vertrauen in die Wirtschaftskompetenzen des früheren Premiers gegeben, beobachtet die liberale Wirtschaftszeitung L'Echo: "Seit der 'Sultan' seinen Premierposten gegen das protokollarische Präsidentenamt eingetauscht hat, hat der anatolische Tiger nach Einschätzung der Türken zu erlahmen begonnen. Indem sie ihn am Sonntag zum Sieger gemacht haben, haben die Türken ihn gebeten, in denjenigen Ressorts einzugreifen, die den Tiger wieder zum Brüllen bringen könnten. Hoffen wir in dieser Hinsicht, dass er wieder Ruhe in die Kurdenfrage bringt, deren friedliche Beilegung auch die Touristen beruhigen und somit einen der Schlüsselsektoren der Wirtschaft stärken könnte. Hoffen wir außerdem, dass Erdoğan wie [der Vorsitzende der flämischen Nationalistenpartei] Bart De Wever in Belgien seine institutionellen und autokratischen Bestreben beiseite schiebt, um sich auf die Wirtschaft zu konzentrieren, den Bereich, in dem er bislang am meisten überzeugt hat."