Fall Özil: Integrationsproblem in Deutschland?

Nach dem Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Nationalmannschaft hält die Debatte über den Fußballstar an. Mit Blick auf den Streit über das umstrittene Foto mit Erdoğan hatte Özil in einer Erklärung den Deutschen Fußball-Bund scharf kritisiert und von Rassismus und Respektlosigkeit gesprochen. Der Umgang der Öffentlichkeit mit dem Fall sagt viel über Deutschland aus, meinen Kommentatoren.

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Český rozhlas (CZ) /

Identität wichtiger als Demokratie

Der Fall Özil belegt nach Auffassung des öffentlich-rechtlichen Hörfunksenders Český rozhlas, wie wirkmächtig Identitäten sein können:

„Die Deutschen fragen sich, wie es angehen kann, dass Menschen, die in einer offenen Gesellschaft aufgewachsen sind, einen Autokraten unterstützen, der seine Gegner ins Gefängnis wirft. Gründe dafür, dass so viele Türken auch in Deutschland Türken bleiben, gibt es viele. Die türkische Identität ist sehr stark ausgeprägt, in Europa einzigartig. Der Fall der vielen Erdoğan-Wähler oder die Aussage Özils, dass er der höchsten Autorität des Landes seiner Familie Ehre erweisen wollte, zeigen: Auch im 21. Jahrhundert ist das Bedürfnis, zu jemandem oder zu etwas zu gehören, so groß, dass es leicht die Liebe zu Freiheit und Demokratie übersteigt.“

Hürriyet Daily News (TR) /

Das geht Ankara nichts an

Erdoğan hat am Dienstag mit Özil telefoniert und ihm seine Unterstützung zugesagt. Doch Ankara sollte sich lieber zurückhalten, mahnt die Hürriyet Daily News:

„Özil war in der Türkei einst mehrfach in Kritik geraten, nachdem er sich dafür entschieden hatte, für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen. Nun ist es nur natürlich, dass bestimmte Kreise ihre Unterstützung und Solidarität mit Özil bekunden. Doch das ist kein türkisch-deutsches Thema. Es ist ein Thema zwischen Özil und Deutschland. Manche der Aussagen türkischer Amtsträger sind nicht hilfreich, sondern könnten das Problem eher verstärken und in der Tat die türkische Gemeinde in Deutschland negativ beeinflussen. Schlimmer noch, es könnte eine gesunde Debatte in Deutschland über Rassismus, Immigration, Integration, Assimilation und Multikulturalität verhindern.“

Dnevnik (SI) /

Scheinheilige Kritik an Fußballer

Die heftige Kritik an Mesut Özil ist scheinheilig, führt Dnevnik aus:

„Fotografieren sich nicht auch deutsche Politiker mit Erdoğan? Jene Politiker, die den Konzernen noch immer den Export von Waffen in die Türkei erlauben? Macht nicht ganz Europa Geschäfte mit dem türkischen Regime, auch deshalb, weil man sich so vor dem Zuzug von Flüchtlingen schützt? Und sind nicht genau die sogenannten Flüchtlingszentren, die in einigen Staaten mit einer äußerst zweifelhaften demokratischen Ordnung entstehen sollen, Ausdruck der gleichen Heuchelei, der nun Özil ausgesetzt ist? In der Türkei mag man Özil jetzt. Doch für diejenigen, die sich früher mit ihm geschmückt haben, ist er ein Verräter. Die multikulturelle Nationalmannschaft schweigt, nicht ein einziger Mitspieler hat ermutigende Worte gefunden. Der Trainer, der neun Jahre lang diese Mannschaft auf ihm aufgebaut hat, schweigt ebenfalls.“

Standart (BG) /

Deutsche sind latent ausländerfeindlich

Mesut Özil spricht ein Problem an, vor dem viele Deutsche die Augen verschließen, meint die Deutschland-Korrespondentin des bulgarischen Staatsfernsehens, Maria Stojanowa, in einem Gastbeitrag für Standart:

„'Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Migrant, wenn wir verlieren.' Diese Worte Özils stecken voller Kränkung, Enttäuschung und Bitterkeit. In Deutschland herrscht eine latente Ausländerfeindlichkeit, die lange Zeit unterdrückt wurde, doch jeder Ausländer hat sie irgendwann einmal zu spüren bekommen. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, wird als persönliches Problem desjenigen abgetan, der es zu spüren bekommt. Diejenigen, die einem dieses Gefühl vermitteln, fühlen sich dafür nicht verantwortlich.“

Yeni Şafak (TR) /

Neuer Wahnsinn des Westens

Der Fall Özil war nur der Anfang, glaubt die regierungstreue, islamisch-konservative Tageszeitung Yeni Şafak:

„Wenn schon ein zur Weltmarke gewordener Fußballer wie Mesut Özil so rassistisch behandelt wird, dann stellen Sie sich vor, was diese Gesellschaft denen antun kann, die weder Macht, Ruhm noch Fürsprecher haben. Rassismus ist immer schlimm, doch wie schlimm deutscher Rassismus sein kann, hat die ganze Welt im Zweiten Weltkrieg erlebt. Jeder sieht nun, dass in Europa ähnlich wie vor dem Zweiten Weltkrieg Fremdenfeindlichkeit, Verschlossenheit, Wut, Stress und Marginalisierung grassieren. ... Früher oder später werden rassistische und gewalttätige Regierungen an die Macht kommen. So wie das heute schon in Österreich, Italien und Ungarn der Fall ist. ... Unsere Kinder oder deren Kinder werden mit einem neuen Wahnsinn des Westens konfrontiert werden.“

Denník N (SK) /

Peinliche Verteidigung

Ein in Deutschland aufgewachsener Fußballer sollte wissen, dass man sich nicht mit einem Diktator fotografieren lässt, auch wenn man gemeinsamer Herkunft ist, meint Dennik N:

„Özil wirft seinen Kritikern Rassismus vor. Die würden sich nur an seiner türkischen Herkunft stoßen. Für einen Menschen, der in einem demokratischen Land des Westens geboren wurde, taugt diese peinliche Verteidigung nicht. Diktatoren und Populisten geben sich gern als Verkörperung ihrer Nation aus, damit sie ihren Kritikern dann Hass gegenüber dieser Nation vorhalten können. Wer mit westlichen Werten erzogen wurde, muss wissen, dass die Kritik an einem Diktator und seinen Methoden keinerlei Kritik an einer Nation bedeutet. Er muss wissen, dass die Kritik an einem solchen Diktator berechtigt ist.“

Jyllands-Posten (DK) /

Die Schuld liegt immer bei den anderen

Verständnislos reagiert Jyllands-Posten auf den Rücktritt Özils aus der deutschen Nationalmannschaft:

„Mit seinem unkontrollierten Ausbruch hat Özil unterstrichen, dass es ernsthafte Probleme mit großen Teilen der Bürger mit türkischem Hintergrund in Westeuropa gibt. Das ist ungerecht gegenüber den wohlintegrierten Menschen wie [dem ehemaligen Grünen-Vorsitzenden] Özdemir; auch in Dänemark führen viele mit einer Einwanderungsbiografie ein untadeliges Leben und tragen zu der Gesellschaft bei, in der sie leben. Aber nicht sie sind die Herausforderung. Es sind Leute wie Özil, die sich in der Opferrolle gefallen und eine persönliche Verantwortung von sich weisen. Für sie liegt die Schuld immer bei den anderen.“

Handelsblatt (DE) /

Integration bedeutet Toleranz

Özils Rücktritt ist ein Aufruf, noch einmal über das richtige Verständnis von Integration nachzudenken, findet hingegen das Handelsblatt:

„Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar. Aber auch nicht die Meinungsfreiheit, die darin verankert ist. Dazu gehört auch, die Meinung des Andersdenkenden zu ertragen; auch wenn er einem Staatspräsidenten Respekt zollt, den in Deutschland inzwischen viele ablehnen. Özils leidenschaftliche Heimatbekundungen muss nicht jeder akzeptieren. Fakt ist aber, dass er so denkt, dass sein Gefühl ihm sagte, er tut aus Sicht seiner türkischen Identität das Richtige, auch wenn es aus Sicht seiner deutschen Identität womöglich falsch gewesen wäre. So etwas fällt den Betroffenen oft sehr schwer. Integration bedeutet hier, zumindest zu versuchen, sich in dieses Spannungsfeld hineinversetzen zu können. Integration bedeutet Toleranz.“

La Repubblica (IT) /

Was in acht Jahren geschah

Vor acht Jahren, beim 3:0 Deutschlands gegen die Türkei, war Özil ein Held, erinnert die Deutschland-Korrespondentin von La Repubblica, Tonia Mastrobuoni:

„Am Ende des Spiels stürzte Merkel in die Kabine und die Fotografen verewigten sie, als sie dem türkischstämmigen Mittelstürmer die Hand schüttelte. ... Das zweite Foto, von 2018, zeigt Özil mit dem türkischen Autokraten Erdoğan. ... Zwischen beiden Bildern liegen Welten. Denn inzwischen hat der Sultan sein Land in eine Diktatur verwandelt, in der unbequeme Gegner und Journalisten eingesperrt werden. Und auch in Deutschland, das die größte türkische Gemeinde im Ausland aufweist - versuchte Erdoğan, für die Präsidentschaftswahl und das Verfassungsreferendum Wahlkampf zu machen. Vor allem aber versucht er, die türkische Gemeinde in den immer häufiger auftretenden diplomatischen Krisen mit Berlin auf seine Seite zu ziehen.“