Putin: Westen hauptschuldig am Zweiten Weltkrieg

Zum 75. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg hat Russlands Präsident Wladimir Putin einen Essay zum Geschichtsstreit um die Kriegsursache veröffentlicht. Die Kernaussage: Nicht der sowjetisch-deutsche Molotow-Ribbentrop-Pakt sei der Hauptauslöser gewesen, sondern die Appeasement-Politik der Westmächte. Hat Putin recht? Und was soll sein Essay zum jetzigen Zeitpunkt bezwecken?

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Wedomosti (RU) /

Sowjet-Geschichtsbild für Export neu verpackt

Historische Fakten wurden hier politischen Interessen untergeordnet, analysiert Wedomosti:

„Putins Artikel hat eine vorrangig außenpolitische Zielrichtung. Es handelt sich um eine weitere Botschaft an West wie Ost: ein Signal des Wunsches, die Wogen zu glätten und eine neue - nach Kremlsicht gerechte - Weltordnung zu schaffen. Aber der historische Inhalt des Artikels ist nicht gerade seine Stärke: Neue Dokumente sind darin in das alte Fell sowjetischer Vorstellungen der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs gehüllt. Er offenbart Faktenfehler und das Bestreben, die Vorkriegspolitik des Kremls samt ihrer eindeutigen Fehlschläge durch eine Heroisierung der Rotarmisten und des sowjetischen Volkes zu rechtfertigen.“

The Times (GB) /

Bitte die Literaturliste updaten

Putins Geschichtsverständnis, das eigene Schandtaten nicht thematisiert, ist veraltet, kritisiert The Times:

„Das Grundproblem der russischen Führung besteht darin, dass die Kriegsgeschichte längst nicht mehr mit eindimensionalem Schwarz-Weiß-Denken erfasst wird, wo es letztlich nur um die Frage ging, ob man gegen die Nazis gekämpft hat. Die Art und Weise, wie der Hitler-Stalin-Pakt den Weg für den Krieg und den Holocaust ebnete, sowie die wahre Natur der späteren sowjetischen Besetzung Osteuropas waren einst nur historische Fußnoten. ... Dank der Historiker sind sie heute Mainstream. ... Beim Wissen über sowjetische Verbrechen (ganz abgesehen von Entschädigungen hierfür) ist in Russland noch viel Platz nach oben. Putin sollte seine Literaturliste erweitern.“

Echo Moskwy (RU) /

Immerhin wird Stalin nicht glorifiziert

Historiker Igor Tschubais zeigt sich auf Echo Moskwy positiv überrascht von dem Artikel:

„Viele Autoren, darunter auch ich, hatten befürchtet, dass die Siegesfeiern zu einer weiteren Stalinisierung des Landes führen würden und dass der Diktator und Henker unseres Volkes zum 'Vater des Sieges' erhoben würde. Das ist zum Glück nicht passiert. Putin hat vor dieser letzten Linie Halt gemacht – und ist sogar einen Schritt zurückgegangen. Im Artikel gibt er kleinlaut zu, dass Stalin Verbrechen begangen hat. Der zweite ideologische Rückzieher betrifft das 'Geheimprotokoll' vom 23. August 1939. ... Zuletzt gab es die Tendenz, dieses als nützlich zu betrachten. ... Putins Artikel kehrt zur Position der 'Anerkennung der politischen Unannehmbarkeit' des Protokolls zurück.“