Kann die EU-Zukunftskonferenz Bürger begeistern?

Ein Jahr lang sollen die Bürger der EU darüber diskutieren, wie sie sich ihre Gemeinschaft künftig vorstellen. Beim Auftakt dieser "Zukunftskonferenz" am Sonntag in Straßburg versprachen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der französische Präsident Emmanuel Macron, zuzuhören. Kommentatoren erörtern die Schwächen des Projekts.

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Tageblatt (LU) /

Politiker bleiben in ihrer Blase

Plötzlich entdeckt die EU ihre Bürger wieder, stichelt das Tageblatt:

„[S]ie stehen ... seit einer gefühlten Ewigkeit im Zentrum der Reden vieler EU-Politiker. 'Der Mensch im Mittelpunkt', ein Satz seit Jahrzehnten gebraucht, missbraucht, ohne Konsequenzen. Deshalb empfindet man berechtigterweise nun Misstrauen und, ja, auch Fremdschämen. Liebe Politiker in eurer Blase: Am Sonntag gab es in Schengen [wo der Europatag ebenfalls gefeiert wurde] für eure Bürger keinen Parkplatz. Alle freien Plätze, weit und breit, waren für die 'Ehrengäste' reserviert. Die Polizei sorgte in eurem Auftrag für Ordnung. Und dann zeigten rot-weiße Bändchen auf dem Sternenplatz der neugierigen Bevölkerung, dass sie nicht wirklich willkommen ist. Noch Fragen?“

Le Soir (BE) /

Alle Bürger müssen gehört werden

Francesca Ratti und Guillaume Klossa von der Organisation Civico Europa finden in Le Soir, dass zu wenig unternommen wurde, um die Zukunftskonferenz populär zu machen:

„Wer weiß schon davon, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs eine Konferenz über die Zukunft Europas vorgeschlagen haben? Die Durchführung eines solchen Vorhabens erfordert starken politischen Willen, beträchtliche finanzielle Ressourcen und die vorherige Mobilisierung der Gesellschaft. Wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, werden bei Bürgerbefragungen nicht genügend Bürger einbezogen. So haben die europäischen Befragungen, die bisher von Regierungen und Institutionen durchgeführt wurden, leider nur ein paar Zehntausend Menschen mobilisiert. Das geht besser.“

15min (LT) /

Politische Mobilisierung notwendig

Der Politologe Ramūnas Vilpišauskas fordert auf dem Onlineportal 15min, die Konferenz trotz ihrer Schwächen zum Erfolg zu führen:

„Diese Konferenz findet nun also statt und man müsste sie für eine politische Mobilisierung nutzen. Man sollte die Gesellschaft aktiver in die Diskussion darüber einbeziehen, wie die EU funktioniert und in welchem Verhältnis sie zu den Staaten und ihren Bürgern steht, wenn man die grenzüberschreitenden Probleme lösen will.“

Der Standard (AT) /

Unstrukturiertes Drauflosdebattieren

Die Vorzeichen für die Zukunftskonferenz sind äußerst schlecht, kritisiert Der Standard:

„Niemand ist da, der die Autorität hätte, mit einfachen Worten die größere politische Linie für die Zukunft vorzuzeichnen. Fast ausnahmslos alle Regierenden zeigen sich vom Klein-Klein in ihren Nationalstaaten getrieben. Nicht wenige sind populistisch oder gar nationalistisch unterwegs - nicht nur der oft und zu Recht kritisierte Viktor Orbán. Auch die EU-Kommission samt ihrer Präsidentin hat ausgelassen. Anders als bei früheren EU-Vertragsreformen hat sie darauf verzichtet, einen eigenen konkreten, greifbaren Vorschlag vorzulegen. So darf nun - mit Bürgerbeteiligung - ein Jahr lang bei der Zukunftskonferenz munter und unstrukturiert drauflosdebattiert werden. Keine guten Vorzeichen.“

RFI România (RO) /

Großbaustelle Europa

Eine der wichtigen Fragen ist künftige Rolle der Nationalstaaten, bemerkt der rumänische Dienst von Radio France International:

„Zwei riesige Baustellen liegen vor den Europäern. Die erste, dringende, ist der Wiederaufbauplan, der die Wirtschaft nach der Gesundheitskrise nicht nur wieder ankurbeln, sondern sie auch tiefgreifend reformieren soll. Die zweite Baustelle - der viel längere Kampf - ist die Konferenz für die Zukunft Europas, eine Serie von Debatten, mit der die Bürger zur Gestaltung der Zukunft des europäischen Projektes beitragen sollen. Soll es eine stärker integrierte Europäische Union geben? Oder im Gegenteil - eine Union, in der die Nationalstaaten die Hauptrolle spielen sollen? Die Debatte darüber hat gerade erst begonnen.“

La Repubblica (IT) /

Das Prinzip der Einstimmigkeit abschaffen

In Brüssel gibt es ein Zauberwort, das immer dann verwendet wird, wenn keine Entscheidungen getroffen werden, mokiert sich La Repubblica:

„Dieses Wort lautet 'Einstimmigkeit'. In den letzten zwanzig Jahren war es die große Ausrede der Europäischen Union. Denn sie ist ein grundlegender und entscheidender Teil der EU-Verträge. Können diese Verträge geändert werden? Das ist die grundlegende Frage, die ein Jahr lang die gestern in Straßburg begonnene Konferenz zur Zukunft Europas begleiten wird. Es ist eine Frage, bei der es um Leben oder Tod des europäischen Projekts geht.“