Ein Bild aus Mariupol geht um die Welt

Im März 2022 bombardierte die russische Armee in Mariupol eine Geburtsklinik. Die Szene, wie Helfer eine verletzte hochschwangere Frau bergen, ging um die Welt, doch Mutter und Kind haben nicht überlebt. Das Bild des ukrainischen AP-Fotografen Evgeniy Maloletka wurde nun als World Press Photo of the Year ausgezeichnet. Die Presse debattiert Wichtigkeit und Wirkung solcher Motive.

Alle Zitate öffnen/schließen
De Volkskrant (NL) /

Dramatik vor infernalischer Kulisse

De Volkskrant rühmt die visuelle Kraft des Fotos:

„Die zu Skeletten reduzierten Gebäude, die umgewühlte Erde, die abgeknickten Baumstämme, der Rauch und die Flammen im Hintergrund bilden eine Kulisse wie bei Dante. Die eilige Bewegung der Rettungshelfer spiegelt die Intensität und Dringlichkeit des Augenblicks wider. Und die rote Decke mit den schwarzen Punkten auf der Trage zieht den Blick auf das Opfer. Ihr Blick scheint bereits leblos, mit letzten Kräften schützt sie mit ihrer Hand das Baby in ihrem Bauch. Eine berührende und angesichts der Umstände herzzerreißende Geste.“

Corriere della Sera (IT) /

Augenzeugen unter Lebensgefahr

Für Corriere della Sera hat Evgeniy Maloletka in Mariupol weitaus mehr geleistet als nur ein dramatisches Motiv abzulichten:

„Er schützte sich wie alle Einwohner der Stadt vor den russischen Bomben, aber er und seine beiden Kollegen von Associated Press hatten einen zusätzlichen Grund, Angst zu haben. Sie wussten, dass Moskau mit Drohnen und Spezialkräften nach ihnen suchte. Moskau wusste, wenn jemand der Welt mitteilen konnte, was in Mariupol Unmenschliches, Unglaubliches, Skandalöses geschah, dann sie. ... Sie überlebten zusammen mit 350.000 anderen Zivilisten, die Tag und Nacht angegriffen wurden. In Europa. Im 21. Jahrhundert. Aber die drei waren die Einzigen, die darüber berichten konnten und denen man glaubte.“

La Stampa (IT) /

Verdrängung bis zur Verleugnung

La Stampa befürchtet, dass wir auch solche starken Bilder verdrängen:

„Das menschliche Gehirn wehrt sich mit allen Mitteln gegen das Unannehmbare, gegen Schrecken und unerträglichen Schmerz. Die Verleugnung der Realität ist eines seiner bevorzugten Werkzeuge. ... Denn der völlig unlogische, brutale und unmenschliche Gedanke, dass ein Krankenhaus, in dem Babys zur Welt kommen, ein militärisches Ziel ist, war inakzeptabel. Die Welt war wie hypnotisiert von dem Schrecken, der sie in den Abgrund zog, und hatte bereits begonnen, nicht mehr daran zu glauben, dass auf dieser Bahre wirklich eine Mutter liegen könnte. Verschwörungstheorien kamen im Wechsel mit optimistischen Gefühlen, die sich ein glückliches Ende für die Mutter und ihr Baby ausmalten.“