Wo steht Syrien ein Jahr nach Assads Sturz?
Ein Jahr ist es her, dass die von Ahmed al-Scharaa angeführte islamistische HTS-Miliz und ihre Verbündeten Machthaber Baschar al-Assad aus dem Land vertrieben haben. Dessen Clan hatte das Land 50 Jahre lang beherrscht und in einen langen Bürgerkrieg gestürzt. Am Jahrestag rief Übergangspräsident al-Scharaa die Syrer nun zur Einheit auf. Europas Presse bilanziert.
Von radikalen Gefolgsleuten abhängig
SRF-Nahostkorrespondent Thomas Gutersohn analysiert:
„Im 'neuen Syrien' hat die Bevölkerung erstmals die Möglichkeit, sich öffentlich zu Nöten und Bedürfnissen zu äussern – undenkbar noch während der Assad-Ära. Doch die ... meisten politischen Entscheide werden auch heute noch von einem kleinen Gremium der einstigen Rebellenführung beschlossen. Diese liess das Aufflammen verschiedener Gewaltwellen im Land gewähren. ... Ahmed al-Sharaa sitzt offensichtlich nicht genug fest im Sattel, um gegen besonders radikale Teile seiner Gefolgschaft vorzugehen.“
Trotz aller Skepsis unterstützen
Der Westen sollte der neuen Regierung vertrauen, meint Politiken, äußert aber auch die Vorbehalte:
„Er ist schließlich ein ehemaliger gesuchter islamistischer Terrorist. Und die Geschichte des Westens, starke Führer im Nahen Osten zu unterstützen, die mit Gewalt an die Macht gekommen sind, ist lang und düster. Aber im Falle Syriens und von Präsident al-Sharaa sind Unterstützung und Anerkennung derzeit der richtige Weg. Die neuen Machthaber in Syrien haben sich als moderater erwiesen, als die meisten gedacht hatten. ... Besorgniserregend ist, dass die Übergangsregierung von Scharaas sunnitischen Muslimen dominiert wird.“
Bedingungen für Rückkehr noch nicht gegeben
Für den Tagesspiegel ist die Lage im Land nach wie vor fatal:
„Rund 16 Millionen Menschen in Syrien sind auf Hilfe angewiesen, das sind zwei Drittel der Bevölkerung. Sieben Millionen sind weiter innerhalb des Landes vertrieben. Es mangelt an allem, an ausreichend Wohnraum, an Unterstützung. Der internationale Plan für humanitäre Hilfe in Syrien für 2025 war Anfang Dezember erst zu 30 Prozent finanziert. Die humanitäre und wirtschaftliche Lage im Land ist katastrophal. Wie sollen sich Rückkehrende da ein neues Leben in der alten Heimat aufbauen? ... Wenn sich die Menschen dennoch eine Rückkehr vorstellen können, dann sollte sich die internationale Gemeinschaft stärker als bisher beteiligen.“