Gillette: "Toxische Männlichkeit" am Pranger

Ein Werbespot der Firma Gillette erregt die Gemüter. Das Video fordert Männer auf, aggressives, bevormundendes und sexuell übergriffiges Verhalten abzulegen, das früher oft als "typisch männlich" galt. In sozialen Netzwerken erhält der Rasierer-Hersteller dafür viel Lob aber auch einen Sturm der Entrüstung. Warum ist der Film so umstritten?

Alle Zitate öffnen/schließen
Tages-Anzeiger (CH) /

Schlau gemachter Spot legt Finger in die Wunde

Dass eine Gillette-Werbung die Männerwelt erschüttert, ist großartig, applaudiert der Tages-Anzeiger:

„Die Gillette-Company hat ihren Uralt-Fundus an Machobildern zu Makulatur erklärt: umso besser! Klar, gehts um Aufmerksamkeit: Schlau gemachte Werbung heute triggert den Empörungsgestus, düngt den Spaltpilz in der Gesellschaft, ebenso wie Politiker es tun. Dass alles Abwägende, Ausgewogene in der Reizüberflutung untergeht, ist ein grosses Problem; aber nicht primär eins der Werbung. Präsentieren Firmen von Nike bis Gillette sich zur Abwechslung als 'edgy' und kantig, zeigen sie ein Bewusstsein für gesellschaftliche Brennpunkte - und sei es gefakt -, ist dagegen nichts zu sagen, im Gegenteil.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Keine Grund zur Hysterie

Der Tagesspiegel empfiehlt den Kritikern des Werbespots, die unter anderem auf Twitter ihren Unmut äußern, etwas mehr Gelassenheit:

„Viele fühlen sich angegriffen, schreien sich virtuell an, keiner hört zu. Das zeigt: Veränderung nervt und knirscht. Das ist auch in Ordnung so. Jedoch sollte man den Dampf aus der Debatte nehmen und vielleicht auch zuhören. Wer so hysterisch reagiert, wenn sein eigenes Weltbild in Frage gestellt wird, egal von welcher Seite, ist offenbar leicht zu verunsichern - nur dann wird meistens am lautesten geschrien, was den Diskurs behindert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Dafür ist das Thema aber zu wichtig.“

The Daily Telegraph (GB) /

Machos immer noch heiß begehrt

Die propagierten neuen männlichen Ideale wirken auf Frauen nicht so attraktiv, wie viele gerne glauben machen wollen, meint Kolumnist Nirpal Singh Dhaliwal in The Daily Telegraph:

„Der angeblich toxische Mann ist ein interessantes Rätsel, nicht zuletzt deshalb, weil er auf Frauen definitiv anziehend wirkt. Figuren wie Don Draper, James Bond und eine ganze Reihe anderer Charaktere zeigen eines klar: Der charismatische, hochgradig leistungsfähige Zombie, den seine eigenen Gefühle ebenso kalt lassen wie die anderer, verkörpern einen Typ Mann, zu dem sich viele Frauen hingezogen fühlen. Dahinter könnte ein emotionaler Masochismus stecken oder ein zwanghaftes Bedürfnis der Frau, die distanzierte Beziehung zu ihrem Vater neu zu durchleben - oder einfach irgendeine andere psychische Macke.“

Ria Nowosti (RU) /

Westen kann gern verweichlichen

Ria Nowosti verweist angesichts des Werbespots auf die Nachteile einer Gesellschaft, die sich 'harte Männer' verbietet:

„Stanislaw Lem beschrieb im Roman 'Rückkehr von den Sternen' die glückliche Menschheit der Zukunft, die freiwillig auf diese 'toxische Maskulinität' verzichtet hat - also schlichtweg auf Aggressivität. Diese Menschheit hat zwar ihre geistigen Fähigkeiten bewahrt, ist aber in ihrer Entwicklung stehen geblieben. ... Denn zusammen mit den scheußlichen Zügen der Männlichkeit (Machtgier, Unterwerfung Schwächerer, Wut und Unvernunft) hat sie auch den Instinkt, Grenzen zu überwinden, und den Traum vom Unmöglichen verloren. ... Um ehrlich zu sein: Unsere rückständige Zivilisation kann sich kaum bessere globale Konkurrenten wünschen als Nationen aus völlig unschädlich gemachten Männern. Es wird uns schwer fallen, diesen zu unterliegen - selbst wenn wir uns Mühe geben.“