Rede zur Lage der EU: Überzeugt von der Leyen?

"Nie zuvor wurde in diesem Haus über die Lage unserer Union debattiert, während auf europäischem Boden Krieg herrscht." So begann EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch ihre Rede vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg. Russland habe das europäische Wertesystem angegriffen, aber die Union könne diesen Angriff gemeinsam abwehren, erklärte sie. Kommentatoren debattieren, ob sie die richtigen Worte gefunden hat.

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Club Z (BG) /

Geschichtsvergessenheit endlich ablegen

"Wir hätten auf die Warnrufe innerhalb der Union hören sollen – in Polen, in den baltischen Staaten und in ganz Mittel- und Osteuropa.“, sagte von der Leyen. Club Z begrüßt die späte Einsicht:

„Als Deutsche sollte sie die Berliner Mauer nicht vergessen und dass jeder, der es wagte, aus der DDR in die BRD zu fliehen, hingerichtet werden konnte. Die Mauer haben die Deutschen ausschließlich der UdSSR zu verdanken. ... Von der Leyen sollte auch nicht vergessen haben, wie die UdSSR 1939 Beistandspakte mit Litauen, Lettland und Estland unterzeichnete. Es folgten der Einsatz sowjetischer Truppen, außerordentliche Parlamentswahlen in allen drei Ländern, der Sieg der kommunistischen Parteien und die Gründung der litauischen, lettischen und estnischen Sowjetrepubliken. All dies natürlich 'nach dem Willen des Volkes'.“

El País (ES) /

Turbo für die Kooperation

El País erkennt nach der Pandemie nun einen zweiten Quantensprung zu mehr Zusammenhalt in der EU:

„Dies ist ein Moment enormer Beschleunigung bei der Gestaltung gemeinsamer Politik. ... Selten waren die europäischen Institutionen so im Einklang mit den Staaten, die ihrerseits auf einer Wellenlänge mit der öffentlichen Meinung sind. ... Diese ist in hohem Maß (über 80 Prozent) mit dem derzeitigen außenpolitischen Handeln der EU gegenüber der Ukraine und mit der Gestaltung einer autarken Energiepolitik einverstanden. ... Die Pandemie und die darauf folgende wirtschaftliche Rezession hat eine durchschlagende Wende in der EU-Wirtschaftspolitik ausgelöst. Die Reaktion auf die russische Aggression wird nun ähnliche Sprünge in der ewig ausstehenden Außenpolitik erfordern.“

Eesti Rahvusringhääling (ERR Online) (EE) /

Russlandpolitik hat sich dauerhaft verändert

Europa hat endlich seine Naivität gegenüber Moskau überwunden, freut sich Politologe Keit Kasemets auf ERR Online:

„Langsam verstehen auch Politiker, Spitzenbeamte und Unternehmer mitteleuropäischer Länder, dass die bisherige Russlandpolitik gescheitert ist. Und sie steht nicht wegen des Kriegs auf Standby, sondern verändert sich dauerhaft. Ursula von der Leyen hat ja in ihrer Rede gestanden, Europa hätte mehr auf die hören sollen, die gesagt hatten, dass Russland nicht stoppen wird. Man hätte auf die russische und belarusische Opposition, die Baltenstaaten und Polen hören sollen.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Reichlich Pathos, aber wenig Empathie

Die Rede ging an den Sorgen der Menschen vorbei, kritisiert die Süddeutsche Zeitung von der Leyen:

„Sie hätte ihnen sagen können, dass die EU alles tun wird, um ihren Bürgern zu helfen, so wie in der Finanzkrise und der Pandemie. ... Aber diese Chance wollte sie offenbar nicht nutzen. Ein kurzer Verweis auf Glashersteller, die sich das Gas für ihre Öfen nicht mehr leisten können, ein halber Satz über alleinerziehende Eltern, die sich vor der Stromrechnung fürchten, ein Exkurs über die Preisbildung am Strommarkt - das war's. Stattdessen viel ukrainisches Heldenpathos. ... Man hatte nach von der Leyens Rede jedenfalls nicht den Eindruck, dass sie verstanden hat, was Europa und Europas Bürgern noch blüht. Oder dass es sie kümmert.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Krisen schweißen zusammen

Die westlichen Politiker müssen ihren Bürgern die Situation gut vermitteln, meint Radio Kommersant FM:

„Bisher sind keine schweren politischen Komplikationen in der Alten Welt feststellbar. Es gibt örtlich Demos, nicht mehr. Alle Regierungen sind im Amt, die EU zerfällt nicht. ... Die Kernfrage ist: Ist der einfache Durchschnittseuropäer bereit, der gemeinsamen westlichen Werte zuliebe Unannehmlichkeiten zu ertragen? Vieles, wenn nicht alles, hängt jetzt von der Eloquenz der europäischen Anführer ab und vor allem von ihrer Fähigkeit, schnell einen Ausweg aus der Krise zu finden. Grundlegend betrachtet hat die westliche Welt nach wie vor großes Potenzial - und extreme Bedingungen schweißen bekanntlich zusammen.“

De Standaard (BE) /

Viele bekannte Versprechen

Angesichts der großen Energiekrise schöpft De Standaard nicht viel Hoffnung aus den Worten der Kommissionspräsidentin:

„Es ist offensichtlich viel einfacher, Maßnahmen zum Schutz der Kaufkraft anzukündigen, als sie dann tatsächlich auch effektiv umzusetzen. Die mit großen Erwartungen umgebene Rede der Kommissionsvorsitzenden Ursula von der Leyen erbrachte keinen großen Durchbruch. Es wurden erneut alle möglichen Mechanismen und Verhandlungen in Aussicht gestellt, die den Preis von Energie senken sollen. Aber vorerst laufen die Interessen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union noch zu weit auseinander, als dass der Eindruck erweckt würde, dass das Erreichen von Einheit die größte Priorität hat.“

De Telegraaf (NL) /

Brüssel will die Krise ausnutzen

De Telegraaf erkennt in der Rede einen Willen zu mehr Macht für die EU:

„In der europäischen Bubble haben sie inzwischen Blut geleckt. Dank des Krieges in der Ukraine sind Vorschläge für Schritte zu einer europäischen Armee auf einmal kein Tabu mehr. Die Corona-Krise wurde genutzt, um das Arbeitsgebiet im Gesundheitswesen stark zu erweitern. In ihrer jährlichen 'Thronrede' träumt die Vorsitzende der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, von noch mehr Macht für Brüssel und mehr EU. Sie nutzt ihr Momentum: Bei jeder Krise sind es die Mitgliedsstaaten, die Brüssel verzweifelt um eine europäische Lösung anflehen.“