Europa uneins bei geschlechtlicher Selbstbestimmung

In Schottland können Transmenschen ab 16 Jahren jetzt ohne ärztliche Diagnose die rechtliche Anerkennung ihres neuen Geschlechts beantragen. Das beschloss das Regionalparlament am Donnerstag in seiner längsten Sitzung aller Zeiten. Gleichentags stellte sich die Regierung der Schweiz, der Bundesrat, gegen die Einführung der Kategorie "divers" auf Ausweisdokumenten. In beiden Ländern wird kontrovers debattiert.

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The Scotsman (GB) /

Endlich ein Ende der Diskriminierung

Kolumnistin Emma Hutton weist in The Scotsman die Bedenken der Kritiker zurück:

„Transmenschen müssen weiterhin nachweisen, dass sie bereits eine gewisse Zeit in ihrer neuen Geschlechterrolle gelebt haben. Sie müssen eine eidesstattliche Erklärung unterzeichnen, und wer Unwahres behauptet, macht sich strafbar. ... Das neue Gesetz wird Schottland mehr in Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards bringen. Es erkennt an, dass die Rechte von Transpersonen auf Privatsphäre und Würde durch die derzeitigen Prozesse beeinträchtigt werden und dass sich dies negativ auf viele weitere ihrer Rechte auswirkt.“

The Times (GB) /

Vergewaltiger haben es nun leichter

Das neue Gesetz setzt Mädchen und Frauen einer größeren Missbrauchsgefahr aus, schimpft The Times:

„Die Rechte von Transmenschen stehen nicht zur Debatte. Dennoch ist es ein Fehler, dass jeder ein Zertifikat zur Anerkennung des eigenen Geschlechts auf der Grundlage von Selbstidentifikation erhalten kann. ... Das Gesetz sieht keine Mechanismen zum Schutz vor potenziellem Missbrauch vor. Es hält zwar fest, dass eine nicht wahrheitsgemäße eidesstattliche Erklärung eine Straftat darstellt. Gleichzeitig bietet es aber keine Möglichkeit zur Überprüfung. Ein Änderungsantrag, der es verurteilten Sexualstraftätern generell verboten hätte, ihr Geschlecht zu ändern, wurde ebenfalls abgelehnt.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Wie mutlos

Der Tages-Anzeiger bedauert den Entscheid der Regierung:

„Es soll, wenn es nach diesem 'Lame Duck'-Bundesrat geht, also auf absehbare Zeit keine Diskussion darüber geben, ob Menschen, die weder Mann noch Frau sind, auch im Pass, auf dem Zivilstandsamt und in der Statistik richtig aufgeführt und bezeichnet werden. ... Aus dem Papier spricht aus jeder einzelnen Zeile die Weigerung, sich auch nur ansatzweise an einer solchen Diskussion zu beteiligen. Dabei verweigert er sich ebenso sehr den klaren Tatsachen: Es gibt nun mal eine - zugegebenermassen kleine - Minderheit, die diskriminiert wird, wenn sie sich nur entweder der Kategorie Frau oder der Kategorie Mann zuordnen darf.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Kompliziert und zwiespältig

Die Drittgeschlechtlichkeit hätte weitgehende Folgen für die Rechtsordnung, gibt die Neue Zürcher Zeitung zu bedenken:

„Wie stünde es mit der Militärdienstpflicht für Diverse? Wie mit der Witwenrente [die in der Schweiz nur Frauen erhalten]? Auch die Gesetzessprache gälte es zu überdenken. Nicht zuletzt ginge es auch um die Regelung des Alltags, um den Zugang zu öffentlichen Gebäuden, um Spitalzimmer, um Garderoben, um Toiletten und vieles mehr. Wer argumentiert, dass man das Ganze nicht unnötig verkomplizieren und einfach alle Räumlichkeiten für sämtliche Geschlechter öffnen solle, macht es sich vor dem Hintergrund von MeToo doch etwas zu einfach.“