Ukraine: Wie realistisch ist ein Kriegsende 2023?

Der Kreml hat die Zahl der toten Soldaten durch einen ukrainischen Militärschlag in der Silvesternacht auf 89 nach oben korrigiert. Kreml-nahe Blogger und Abgeordnete kritisierten die russische Militärführung scharf. Auf ukrainischer Seite werden derweil die Schäden der jüngsten Raketen- und Drohnenangriffe aufgeräumt. Europas Presse fragt, wie sich der Krieg langfristig entwickeln könnte.

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La Tribune de Genève (CH) /

Erlahmen der Front wahrscheinlich

Trotz wiederholter Fehler könnte Russlands Militär standhalten, bangt La Tribune de Genève:

„Das jüngste Blutbad macht zumindest eines deutlich: Die russische Armee lernt nicht aus ihren Misserfolgen. Die Soldaten in Makijwka, deren Handys offenbar die Aufmerksamkeit der gegnerischen Geheimdienste erregt haben, haben sich unerklärlich amateurhaft verhalten. ... Wird es Moskaus Soldaten gelingen, die versprochene neue Gegenoffensive zu starten? Oder brechen sie endgültig zusammen und reißen Wladimir Putin mit? Ein dritter Weg ist zu befürchten: der eines Erlahmens der Front. Dank Waggons voller Kanonenfutter und alter Sowjetmunition, deren Vorrat endlos zu sein scheint, könnte es Russland gelingen, den Konflikt einzufrieren. Das wäre das echte Desaster.“

Český rozhlas (CZ) /

Mehr als ein Waffenstillstand ist nicht drin

Ein Frieden mit Putin ist unmöglich, ist Kommentator Daniel Kroupa in Český rozhlas überzeugt:

„Weil der Grund für seine Aggression in der Ukraine nicht die Angst vor Bedrohung durch die EU oder die Nato ist, sondern das Bemühen, die russische imperiale Idee zu verwirklichen. Die erfordert die Beseitigung der friedlichen Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Prinzip der Anerkennung der Souveränität der Staaten und ihrer territorialen Integrität geschaffen wurde. ... Angebotene Kompromisse könnten höchstens einen Waffenstillstand herbeiführen, der Putin wiederum nur dazu dient, an Stärke zu gewinnen und unter einem anderen Vorwand weiterzumachen.“

NV (UA) /

Rückzug auf Linien vom 23. Februar?

Welche Bedingungen für einen Waffenstillstand erfüllt werden müssen, erläutert der Politologe Wolodymyr Fessenko in NV:

„Es gibt ausreichend erfolgreiche Offensivaktionen der ukrainischen Armee; eine relativ stabile militärische, technische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine durch unsere internationalen Partner; eine militärische, politische und wirtschaftliche Schwächung Russlands, jedoch ohne eine systemische interne Krise; eine Stabilisierung der Frontlinie an der Verwaltungsgrenze zur Krim und möglicherweise im Donbas. In diesem Fall könnten die Kampfhandlungen nach einiger Zeit durch eine technische Vereinbarung über einen vorübergehenden (aber ohne zeitliche Festlegung) Waffenstillstand beendet werden. Die Frage der Befreiung der Krim würde auf die diplomatische Ebene verlagert.“

Alfa (LT) /

Westen könnte sich wieder einlullen lassen

Dass Putin im Laufe dieses Jahres Geschichte sein wird, davon ist Publizist Edward Lucas in Alfa überzeugt, erwartet davon aber keine Sicherheit für die Ukraine:

„Angesichts des unaufhaltsamen Zerfalls und der Niederlage der russischen Armee wird der Druck auf und innerhalb des Kremls unerträglich sein. Jemand wird nachgeben. ... Ich bin beunruhigt: Westler neigen im Allgemeinen dazu, dem neuen Kremlherrn einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, bis die Realität sie trifft. Die große Gefahr ist, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, aber den Frieden verliert. Es kann sein, dass sie nicht alle verlorenen Gebiete zurückerhält und ohne verlässliche Sicherheitsgarantien dasteht, während der Angreifer ungestraft bleibt.“

The Moscow Times (RU) /

Der Krieg wird zum Alltag

Der Politologe Wladimir Pastuchow schreibt in The Moscow Times:

„Die Möglichkeiten beider Seiten, Ressourcen zu mobilisieren, sind sehr begrenzt: ... Damit die Ukraine gewinnt, muss die westliche Militärhilfe sowohl quantitativ als auch qualitativ vervielfacht werden; damit Russland gewinnt, ist nicht eine partielle, sondern eine vollständige Mobilmachung mit Umstellung der gesamten Industrie auf Kriegsgleise erforderlich. ... Da weder die erste noch die zweite Variante hinreichend wahrscheinlich erscheinen, bleibt als prioritäres Basisszenario für 2023 die 'Palästinisierung des Konflikts', in der sich beide Gesellschaften allmählich an den Krieg als Lebensweise gewöhnen.“

Irish Independent (IE) /

Westliche Apathie ist Putins bedeutendste Waffe

Je länger der Krieg dauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Unterstützung für die Ukraine nachlässt, warnt Irish Independent:

„Unsere Aufmerksamkeitsspanne und finanzielle Hilfsbereitschaft sind nicht endlos. Das spielt Moskau in die Hände. Globale Apathie ist Putins größte Waffe. Wenn die Unterstützung für die Ukraine nachlässt, wächst seine Chance auf Sieg. Wenn wir der Notlage der Ukraine überdrüssig werden, riskieren wir, eine Invasion global zu normalisieren. Wir riskieren, einen gefährlichen weltweiten Präzedenzfall zu schaffen.“

Õhtuleht (EE) /

Putin wird verschwinden

Spätestens diesen Sommer ist der Spuk vorbei, glaubt Kolumnist Oleg Samorodni in Õhtuleht:

„Wenn die russische Armee keine erfolgreichen Angriffe mehr durchführen kann, stockt der Aufmarsch der Moskauer Horden. Die russischen Okkupationskräfte werden das ukrainische Territorium aufgeben. Und der Kreml wird herausfinden wollen, wer an der Niederlage in der Ukraine schuld ist. Sie werden die Schuld auf die Armee und Generäle schieben. Die Generäle werden sich wehren. Alle nagen dann am Dumm-Diktator Putin. Im Sommer oder vielleicht schon früher wird erklärt, Putin sei tot. Oder der Kreml-Zwerg verschwindet spurlos. Gegen Ende des Sommers oder im Frühherbst beginnt der Zusammenbruch der Russischen Föderation.“

In (GR) /

Niemand bemüht sich ernsthaft um eine Lösung

Es sieht düster aus, schreibt dagegen Kolumnist Lefteris Charalambopoulos im Webportal In.gr:

„Der Krieg in der Ukraine geht leider weiter, ohne dass sich alle direkt oder indirekt beteiligten Seiten bemühen, Schritte in Richtung Frieden zu unternehmen. ... Die wirkliche 'richtige Seite der Geschichte' ist jedoch der Frieden, und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob es derzeit irgendwelche Kräfte gibt, die wirklich auf dieser Seite stehen, ungeachtet aller Rhetorik. Stattdessen vertiefen sich die Spaltungen in der ganzen Welt, die sehr leicht zu globalen Konflikten zwischen Mächten werden könnten, die über genügend Atomwaffen verfügen, um den Planeten zu zerstören.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Kein Frieden mit diesen Verbrechern

Svenska Dagbladet wünscht sich eine Verhandlungslösung - aber unter Bedingungen:

„Eine solche Lösung muss in der selbstgewählten Neuorientierung Russlands von einem herrschergeführten Imperium zu einem volksgeführten Nationalstaat mit einer offenen Gesellschaft gesucht werden. Eine erste Bedingung ist ein Regimewechsel. ... Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand kommen könnte, was unwahrscheinlich ist, traut niemand irgendwelchen Zusicherungen von Putin, Lawrow oder sonst jemandem in den Diensten des Regimes. ... Das Kreml-Syndikat ist eine Gruppe korrupter Kriegsverbrecher, die in Den Haag in Haft und nicht am Verhandlungstisch sitzen sollten. Frieden, der auf echtem Konsens basiert, kann nicht mit Kriminellen geschlossen werden.“

Pravda (SK) /

Langfristig gegen Russland absichern

Selbst wenn Putin weg wäre, bliebe Frieden unwahrscheinlich, ist Pravda pessimistisch:

„Machen wir uns keine Illusionen, dass ein Russland ohne Putin seine Haltung grundlegend ändern würde. Es ist ein imperialer Staat, der kleine Nationen und Staaten zutiefst verachtet. Während sich die Ukraine weiter selbst befreit, sollten wir in Europa parallel dazu langfristige Sicherheitsbarrieren gegen Russland errichten. Ohne sie wird der Krieg niemals enden und die Ukrainer - und die ganze Welt - werden im Verhältnis zu Russland keinen dauerhaften Frieden und keine Ruhe bekommen.“