Rentenreform ausgesetzt: Krise in Frankreich beendet?
Frankreichs Regierungschef Sébastien Lecornu hat die umstrittene Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre bis Januar 2028 ausgesetzt. Das solle das notwendige Vertrauen schaffen, um neue Lösungen zu entwickeln, erklärte er am Dienstag. Die oppositionellen Sozialisten bezeichneten den von ihnen geforderten Schritt als "Sieg". Die geplante Reform hatte 2023 zu monatelangen Massenprotesten im Land geführt.
Ganz nach dem Geschmack der Linken
Frankreichs Premier sieht sich genötigt, den Sozialisten entgegenzukommen, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Nun ist es also passiert: Sébastien Lecornu ist vor den Sozialisten eingeknickt. ... Lecornu erfüllt eine zentrale Forderung der Sozialisten, ohne deren Duldung seine Minderheitsregierung keine Überlebenschance hat. Die radikale Linke und das rechte Rassemblement national haben schon Misstrauensvoten eingereicht und angekündigt, die Regierung auf jeden Fall stürzen zu wollen. Lecornu musste also auf den Parti socialiste zugehen. Und der nutzte seine Schlüsselrolle mit maximalem Kalkül: Nicht nur ist die verhasste Rentenreform vorerst erledigt, der neue Haushaltsentwurf sieht auch, ganz nach dem Geschmack der Linken, neue Steuern für Unternehmen und Vermögende vor.“
Wichtigere Themen werden vernachlässigt
Les Échos bedauert, dass die Rentenfrage den Blick auf die eigentlichen Herausforderungen verstellt:
„Nach der Ankündigung von Sébastien Lecornu, der den wirtschaftlichen Macronismus zugunsten von Stabilität und zur Rettung von Emmanuel Macron zu Grabe getragen hat, weiß niemand, wie die Parlamentsdebatte über die Aussetzung der Rentenreform verlaufen wird. Eines aber ist schon jetzt klar: Leider wird dieses Thema auch im Präsidentschaftswahlkampf 2027 wieder im Mittelpunkt stehen, wie schon 2017 und 2022. Wertvolle Zeit, die für bedeutendere Fragen hinsichtlich der Zukunft Frankreichs verloren geht. Etwa für jene, die unser neuer Wirtschaftsnobelpreisträger Philippe Aghion nun unermüdlich betont: Innovation und Europas wachsender Rückstand gegenüber den USA und China.“
Unfranzösische Kompromisskultur ist geboten
Es sollte endlich eine Reform des politischen Systems in Gang gesetzt werden, fordert NRC:
„Dies erfordert einen Kulturwandel, bei dem die Politiker 'ihr Ego etwas zurückstellen', wie Lecornu bereits sagte, um durch Verhandlungen mit relativen Mehrheiten Erneuerung zu erreichen. Positiv ist, dass laut Lecornu eine Einigung über den Haushalt und den Verzicht auf den Verfassungsartikel, der die Umgehung des Parlaments ermöglichte, in greifbare Nähe gerückt sind. Möge dies der Beginn einer Kompromisskultur sein, die vielleicht 'unfranzösisch' erscheinen mag, aber die einzige Chance ist, das Land tatsächlich voranzubringen.“
Atempause für die Regierung
Unterm Strich ein Schritt in die richtige Richtung, lobt Libération:
„Bedeutet die Aussetzung der Rentenreform das Ende der schweren politischen Krise, die das Land durchlebt? Natürlich nicht. ... Die Ursachen dieser Krise sind vielfältig, ihre Wurzeln zu tief, als dass man naiv glauben könnte, dass in einer Sitzung der Nationalversammlung – selbst wenn sie historisch ist – alles geregelt werden könnte. ... Die wichtige Entscheidung, die Rentenreform bis zur nächsten Präsidentschaftswahl auszusetzen, wird natürlich nicht die politische Krise lösen, aber sie wendet die Gefahr eines Misstrauensvotums gegen die Regierung Lecornu ab und damit auch die erneute Auflösung des Parlaments. ... So könnte sie vielleicht dazu beitragen, dass das Land nicht weiter in eine Regierungskrise abstürzt. Das ist nicht nichts.“
Ein trauriges Schauspiel
Le Figaro zeichnet ein düsteres Bild:
„Man kann sich leicht ausmalen, dass die 14 Milliarden Euro an Steuererhöhungen nur der Anfang eines steuerpolitischen Wahnsinns sind, der die Haushaltsdebatten prägen dürfte. ... Es ist ein trauriges Schauspiel, wie die Zentrumsparteien und die Republikaner sich selbst zerstören und damit der Linken und dem RN den Weg für 2027 frei machen. Es ist ebenso ein trauriges Bild, wenn sich ein Premier öffentlich so demütigen lassen muss. ... Und ein erschütterndes Bild eines Präsidenten, der bereit ist, alles zu opfern – Institutionen, Menschen, Reformen – nur um an der Macht zu bleiben. Das ist ein falscher Sieg, eine wahre Niederlage.“
Kapitulation des Präsidenten
Das ist eine gigantische Schlappe für Macron, urteilt La Repubblica:
„Zwei Jahre, nachdem die Rentenreform Frankreich in Aufruhr versetzt hatte, wird sie nun ad acta gelegt. Sébastien Lecornu kündigte gestern Abend die 'vollständige und totale Aussetzung' des Gesetzes an, das das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre angehoben hatte. Eine überraschende Wendung, die zumindest vorerst einen der heftigsten sozialen und politischen Kämpfe seit Emmanuel Macrons Amtsantritt im Élysée-Palast beendet. Eine Kapitulation, die den Beigeschmack eines politischen Niedergangs hat. Die Symbolreform des Macronismus geht unter, sie war die umstrittenste, die am meisten gehasste, aber auch die vom Staatschef am hartnäckigsten verteidigte.“
Weiteres Chaos wäre auch ein Problem für Schweden
Sydsvenskan ist besorgt:
„Für ein kleines, exportabhängiges Land in Nordeuropa sind starke Handelspartner wichtig – nicht zuletzt die EU-Giganten Frankreich und Deutschland. Daher ist Macrons Krise auch ein Problem für Schweden. Das politische Chaos in Frankreich dürfte sich verschärfen, wenn der Haushalt erneut im Parlament blockiert wird. ... Dies würde zu einer wachsenden Unzufriedenheit führen, was bei der Präsidentschaftswahl 2027 den Rechtsnationalen zugutekommen würde. Und mit Marine Le Pen oder Jordan Bardella in der Präsidenschaft der Republik dürften weder die französischen Haushaltsprobleme noch die Stagnation in Europa verschwinden.“