Ukraine: Wie weiter nach dem Jermak-Rücktritt?
In der Ukraine ist nach dem Rücktritt von Andrij Jermak eine Schlüsselposition vakant. Nach sechs Jahren im Dienst räumte der Leiter von Selenskyjs Präsidialkanzlei im Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal im ukrainischen Energiesektor seinen Posten. Es gab bei ihm eine Hausdurchsuchung, aber Anklage wurde bislang nicht erhoben. Die Medien bewerten, was diese Entwicklung für das Land und den Verhandlungsprozess bedeutet.
Selenskyjs Macht ist massiv geschrumpft
Radio Kommersant FM sieht Jermaks Abgang als deutliche Schwächung der präsidialen Macht in Kyjiw:
„Das Präsidialamt war so stark an Jermak gebunden, dass Selenskyj in dessen Abwesenheit praktisch zu einer 'lame duck' wird. Es ist unwahrscheinlich, dass einer der Kandidaten für die Rolle des neuen Verwaltungschefs das gesamte System der Staatsführung unter seine Kontrolle bringen kann. Dazu bedarf es nicht nur des Vertrauens des Präsidenten, sondern auch der Loyalität des Systems selbst. Und heute ist die Situation ganz anders als im Februar 2020 [bei Jermaks Amtsantritt], als die Popularität Selenskyjs ihm und seinem Büroleiter einen Freibrief gab.“
Weg frei für einen unbelasteten Unterhändler
The Daily Telegraph gewinnt dem Rücktritt etwas Positives ab:
„Sein Rücktritt scheint ein stilles Eingeständnis dafür zu sein, wie weit man von einem tragfähigen Waffenstillstand entfernt ist. Doch er könnte auch ein Silberstreif am Horizont sein: Jermaks Abgang könnte helfen, das angespannte Verhältnis zur Regierung von Präsident Donald Trump zu reparieren und den Weg für eine pragmatische Lösung des Krieges zu ebnen. … Sein Rücktritt eröffnet Trump-freundlicheren Persönlichkeiten die Möglichkeit, innerhalb des ukrainischen Verhandlungsteams an Einfluss zu gewinnen. … Ein neuer, unbelasteter Unterhändler, der nicht durch harte frühere Aussagen vorgeprägt ist, könnte bereit sein, jene schwierigen Entscheidungen zu treffen, die für Frieden in der Ukraine notwendig sind.“
Prinzipien guter Regierungsführung gewahrt
Für Latvijas Avīze reagiert die Ukraine in diesem Fall vorbildhaft für ein demokratisches Staatswesen:
„Was 'Jermakgate' angeht, so hingen die Schatten schon lange über dem Leiter der ukrainischen Präsidialkanzlei. Man kann also annehmen, dass Selenskyj sich bereits darauf vorbereitet hatte, sich – zumindest formell – von seinem wichtigsten Teammitglied verabschieden zu müssen. ... Die Ukraine kann sich nun sogar als Beispiel dafür präsentieren, wie Demokratie funktioniert: Ein Beamter tritt bei Verdacht zurück, anstatt auf ein rechtskräftiges Urteil zu warten. Natürlich wissen wir nicht, ob die Korruption noch tiefer verwurzelt ist, aber zumindest in diesem Fall verlief alles nach den Grundsätzen guter Regierungsführung.“
Notwendiges Opfer
Jermaks Rücktritt war unvermeidlich, analysiert Politologe Ihar Tyschkewytsch in einem von NV übernommenen Facebook-Post:
„Unabhängig davon, ob der ehemalige Leiter der Präsidialkanzlei schuldig ist oder nicht, ist er zu einem notwendigen politischen Opfer geworden. Andernfalls hätten die USA diesen Fall genutzt, um Druck auf Selenskyj auszuüben. Und der ukrainische Präsident hätte – unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen und dem Zeitpunkt der Waffenruhe – seine politische Zukunft verloren.“
Denkbar ungünstigster Moment
Der öffentlich-rechtliche Radio-Sender Český rozhlas meint:
„Die weitere Eskalation der Korruptionsprobleme im Inland trifft Wolodymyr Selenskyj zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt – mitten in den vielschichtigen Friedensgesprächen. Eigentlich sollte Jermak selbst derzeit die ukrainische Delegation in den USA leiten und mit hochrangigen US-Beamten verhandeln. Stattdessen will er, zumindest im übertragenen Sinne, als eine Art Buße zu den Waffen greifen, und dorthin gehen, wo das Land seine Männer derzeit am dringendsten braucht – an die Front.“
Sturz des Präsidenten wäre ein Desaster
Der Tagesspiegel hofft, dass Selenskyj den Skandal übersteht:
„Vieles dürfte nun an der Frage hängen: Wusste Selenskyj, wie tief der Korruptionssumpf in sein eigenes Umfeld hineinreichte – oder nicht? Denn der Kampf gegen Machtmissbrauch und Vetternwirtschaft ist – neben dem Kampf gegen die russische Invasion natürlich – sein politischer Markenkern, das große Versprechen ans eigene Volk. Er hatte ihn sich auf die Fahnen geschrieben, lange bevor er 2019 ins Kiewer Regierungsviertel einzog. ... Sollte am Ende tatsächlich auch Selenskyj stürzen, wäre das ein Desaster. Dann hätte sich eines von Wladimir Putins zentralen Kriegszielen – die Auswechselung der ukrainischen Staatsführung – erfüllt. Wenn auch auf ganz anderem Wege als im Kreml geplant.“
Ende der Alleinherrschaft
Politologe Serhij Taran analysiert in einem von Espreso übernommenen Facebook-Post:
„Der Rücktritt von Jermak markiert das Ende der Ära der Alleinherrschaft in der Ukraine. Dementsprechend wird sich das gesamte Machtsystem verändern. ... Voraussichtlich wird der Präsident die politische Kontrolle über das Parlament verlieren. ... Zweifellos wird sich das auch auf die Zusammensetzung der Regierung auswirken. ... Die Ironie besteht darin, dass diese Umverteilung der Macht bereits vor einem oder zwei Jahren hätte erfolgen können – in Form einer parteiübergreifenden Regierung des nationalen Vertrauens. Die Staatsführung hätte davon nur profitieren können, denn eine Machtumverteilung bedeutet auch eine Aufteilung der Verantwortung. ... Aber niemand wollte die Macht teilen.“
Druck soll Selenskyj weichmachen
Radio Kommersant FM sieht das Vorgehen der Antikorruptionsbehörde als eine von den USA dirigierte Maßnahme:
„Noch am Vortag hatte Jermak in einem Interview mit dem Journalisten Simon Shuster von The Atlantic erklärt, dass die Ukraine niemals ihr Territorium im Austausch für Frieden abtreten werde, solange – Obacht! – Selenskyj das Amt des Präsidenten bekleide. Und prompt kamen sie am nächsten Tag zu ihm. Bekanntlich wartet die Ukraine auf neue Friedensvorschläge aus den USA. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird man dabei erneut Druck auf den ukrainischen Staatschef ausüben, damit er seine Haltung wenigstens mildert und Zugeständnisse macht. Korruptionsvorwürfe sind bekanntlich ein mehr als überzeugendes Argument in schwierigen Verhandlungen.“