Ist der Protest in Ungarn eine Gefahr für Orbán?

In Ungarn demonstrieren Tausende seit rund einer Woche gegen ein neues Arbeitszeitgesetz und die Politik der national-konservativen Regierung. Die Proteste werden auch von einem breiten Bündnis der Oppositionsparteien und Gewerkschaften getragen. Einige Kommentatoren glauben nicht daran, dass sie zu umwälzenden Veränderungen führen. Andere warnen, die Situation könnte brandgefährlich werden.

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Večer (SI) /

Auf die Opposition wartet noch viel Arbeit

Večer hat lediglich gedämpfte Hoffnungen auf Veränderungen in Ungarn:

„Bis zu diesen Veränderungen ist es noch ein weiter Weg. Orbán genießt derzeit noch die mehrheitliche Unterstützung der Wähler, die er durch seine Propagandamaschinerie davon überzeugt hat, dass er der einzige Verteidiger des ungarischen Volks und des Staats ist. Orbán sitzt weiterhin fest im Sattel. Deshalb wartet auf die Opposition, die nach langer Zeit zum ersten Mal wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben hat, noch viel Arbeit, wenn sie ihr Ziel erreichen will: nämlich einen Regierungswechsel.“

Tages-Anzeiger (CH) /

In Ungarn droht ein Bürgerkrieg

Die EU muss in Ungarn dringend eingreifen, fordert der Tages-Anzeiger:

„Vielleicht erlahmen die Proteste zu den Weihnachtsfeiertagen. Wenn nicht, wird die Lage brandgefährlich. Die Propaganda hat Orbáns Anhänger gehirngewaschen. Ein Wink würde genügen, um sie gegen die angeblichen 'Soros-Knechte' loszuschicken. Und der Regierungschef seine eigene Polizeieinheit, die mit Radpanzern durch Budapest fährt. Auf der anderen Seite würde ein Scheitern der Proteste auch Teile der Opposition radikalisieren. In den Reihen der extrem rechten Jobbik haben etliche eine paramilitärische Ausbildung. Angesichts des Gewaltpotenzials täte die EU gut daran, Vermittler zu schicken und eine Taskforce Hungary einzurichten. Während alle Augen auf den Brexit gerichtet sind, drohen im Osten bürgerkriegsähnliche Zustände.“

Origo (HU) /

Alles andere als spontane Proteste

Die Erzählung der Opposition über die Demonstrationen in Budapest ist reinste Propaganda, liest man auf dem regierungsnahen Onlineportal Origo:

„Dieses Narrativ behauptet, dass es aufgrund von gesellschaftlicher Empörung zu einer Initiative von unten kam, die die Massen gegen die Regierung auf die Straßen gebracht hat. Nachdem ein paar Tage vergangen sind, wird immer klarer, dass die Serie von Demonstrationen nicht von unten organisiert wurde. Ganz zu schweigen davon, dass die Ereignisse mit Spontanität nichts zu tun hatten. ... Nicht nur die Politiker des Soros-Netzwerkes, sondern auch die Aktivisten des US-amerikanischen Unterstützers der Migration an den Universitäten haben schon früh begonnen, aggressive Straßenaktionen vorzubereiten.“

Index (HU) /

Opposition mit neuer Haltung

Die Opposition spielt bei den Protesten eine zentrale Rolle, erklärt das unabhängige Internetportal Index:

„Für sie ist es nun kein Problem mehr, die Initiative zu ergreifen, sich zusammenzuschließen und symbolische Politik zu machen. Innerhalb einer Woche hat sich ihr Verhältnis zum System Orbán von Grund auf verändert. ... Es wird sich erst langfristig zeigen, ob Orbán den richtigen Instinkt hatte, ob es richtig war, auf den 400 Überstunden zu bestehen und damit in Kauf zu nehmen, dass die Opposition sich radikalisiert. Wenn es dieser gelingt, das Thema kontinuierlich auf der Tagesordnung zu halten und die Menschen auf die Straße zu bringen, dann könnte ein neues Lager entstehen, das Pfeifen, Sirenen und Rauchbomben verwendet und so gar nicht mehr in Orbáns System der nationalen Zusammenarbeit passt.“

Der Standard (AT) /

Was Orbán verlernt hat

An den Protesten der ungarischen Bevölkerung ist Orbán selbst schuld, erklärt Der Standard:

„Orbán hat verlernt, wie man gesellschaftliche Debatten führt. Kompromisse im Parlament hat er nicht nötig, gegängelte Medien üben keine Kritik, eine weltoffene Uni wird aus dem Land geekelt, angebliche Bürgerbefragungen strotzen vor Suggestivfragen. Und wenn sich doch einmal Widerstand regt, dann heißt der Sündenbock - wie auch im Fall der jüngsten Proteste - George Soros. Noch lässt sich schwer einschätzen, ob die neue Bewegung, die von links bis ganz rechts reicht und mittlerweile auch auf die Korruption zielt, Orbán langfristig schaden kann. Sicher ist nur: Die Gesprächsverweigerung als politisches Konzept hat auch in Ungarn keine Zukunft.“

Aktuality.sk (SK) /

Premier züchtet ungarische Gelbwesten

Ungarns Premier hat zu viele Fehler auf einmal gemacht, analysiert das Onlineportal Aktuality.sk:

„Orbáns Argumente haben die Straße bislang nicht überzeugt. Das Gesetz liegt auch nicht im Interesse der arbeitenden Menschen. Was etwa wird mit der Bezahlung der zwangsweisen Überstunden nach einem Zeitraum von drei Jahren, sollte die Firma dann nicht mehr existieren? Taktisch unklug verärgert Orbán zudem die Intellektuellen mit einer Art Justizreform. Der Premier hat es damit geschafft, Gewerkschaften und Intellektuelle gemeinsam gegen sich aufzubringen. Es wäre nicht überraschend, wenn die Proteste Massencharakter annehmen würden, nach dem Muster der französischen Gelbwesten.“

Polityka (PL) /

Vorerst nur eine Verwarnung

Die ungarische Regierung muss die anhaltenden Demonstrationen zunächst nicht fürchten, prognostiziert die Tageszeitung Polityka:

„Die Proteste in Budapest werden wohl kaum zu einer politischen Krise führen. Die Regierungspartei Fidesz ist immer noch beliebt und die Opposition ist schwach und gespalten. Doch Fidesz erhält eine gelbe Karte. Die Partei bekommt eine Warnung von den Wählern, die mit ihren Protesten zeigen, dass sie soziale Rechte eher verteidigen als die Demokratie. Bei jedem großen gesellschaftlichen Protest, auch bei der polnischen Solidarność-Bewegung, konnte man dieselbe Logik beobachten: Mit der Zeit dehnten sich die sozialen Forderungen zu politischen aus. Auch in Ungarn könnte es bald soweit sein.“

Krónika (RO) /

In einer Demokratie ist Gewalt kein Mittel

Es gibt eine Parallele zwischen den Demonstrationen in Paris, Bukarest und Budapest, kommentiert Krónika:

„Die Radikalen, die mit der Zerstörung von Paris gegen Macrons Politik protestieren, die Aufrührer von Bukarest, die die friedliche Bewegung der rumänischen Diaspora gekapert haben und einige der ungarischen Demonstranten, die in diesen Tagen gewaltbereit auf die Straßen von Budapest gehen, leben in dem Irrglauben, dass man eine demokratisch gewählte Regierung, mit undemokratischen Mitteln - wie dem Angriff auf Polizei und Parlament - stürzen kann. Dabei sollte man nicht vergessen, dass wir nicht das Jahr 1989 schreiben. Wir leben nicht in einer Diktatur. Darum sind Gewalt, das Zerschlagen von Fenstern des Parlaments oder Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften keine Option.“

hvg (HU) /

Keine Zusammenarbeit mit dieser Regierung!

Die Opposition muss Konsequenzen aus der Regierungspolitik ziehen, fordert der linke Philosoph Gáspár Miklós Tamás in hvg:

„Sie muss dem Land und der Welt zeigen, dass sie nicht mehr bereit ist, bei der Durchsetzung von Regelungen zu assistieren, die gegen die Gesellschaft gerichtet sind. Regelungen, gegen die die Arbeiter protestieren und die von der großen Mehrheit der Öffentlichkeit abgelehnt werden, während das Parlament nur noch eine Bühne für eine von der diktatorischen Exekutive aufgeführte Komödie ist. Wenn die Regierung nur noch die Interessen des internationalen und heimischen Großkapitals durchsetzt, während sie berechtigte Interessen der Arbeiter missachtet und die Demonstranten mit der Macht ihrer Medienholding [Zusammenschluss regierungsnaher Medien in Ungarn] demütigt, darf man mit ihr nicht zusammenarbeiten. Zusammenarbeit kann nie einseitig sein. Einseitige Zusammenarbeit ist Unterwerfung.“

888.hu (HU) /

Demonstranten wurden aufgewiegelt

Es ist nur eine Minderheit, die dort demonstriert, versichert das regierungsnahe Internetportal 888.hu:

„Die Mehrheit der Menschen verurteilt den Vandalismus des Soros-Packs. Und auch die Clownerie der Opposition im Parlament hat bei den meisten Ungarn keinen Gefallen gefunden. Die friedlichen Demonstranten - von denen die Mehrheit gar nicht weiß, worüber die Regierung entschieden hat - sind wegen der Lügen der Soros-Provokateure auf die Straßen gegangen. Diese Provokateure und Politiker sind an den Fakten nicht interessiert. Sie können nur zerstören und spielen manchmal Märtyrer.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Bei sozialen Fragen ist Orbán verwundbar

Anders als frühere Proteste gegen Orbán könnten diese ihm nun tatsächlich gefährlich werden, glaubt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:

„Wenn es der Opposition in den vergangenen Jahren gelungen ist, viele Menschen auf die Straßen zu bringen, ging es meist um abstrakte Werte wie Demokratie, Pressefreiheit oder Rechtsstaat. Solche Themen bewegen zwar einen sehr aktiven Teil der städtischen Bevölkerung, aber in weiten Teilen des Landes bleibt das ohne Widerhall. Das Gesetz, das bis zu 400 Überstunden im Jahr erlaubt, betrifft dagegen potentiell sehr viele Ungarn unmittelbar in ihrem täglichen Leben. Sollte es tatsächlich auf die Weise missbraucht werden, wie Opposition und Gewerkschaften fürchten, dann kann es langfristig die Machtbasis Orbáns untergraben. Soziale Fragen sind die Stelle, an der autoritäre Herrscher besonders verwundbar sind.“

Népszava (HU) /

Unfaires Angebot

Was auch immer der Premier behauptet, das Gesetz ist nicht im Interesse der Arbeitnehmer, findet Népszava:

„Ihren Interessen entspräche es, wenn sie mit acht Stunden Arbeit täglich, unter Einhaltung der Ruhezeiten und mit dem gesamten ihnen zustehenden Urlaub, einen Lohn auf europäischem Niveau erhielten, der ihre Wohnung finanziert und ihnen Erholung ermöglicht. Dass es in einem Land, das zu denen mit den niedrigsten Löhnen in Europa gehört, mehr Lohn nur für mehr Arbeit geben soll, ist ein unfaires Angebot. Aber unser Fall ist sogar noch drastischer. Denn Überstunden sind die billigste Art, Arbeitskraft zu generieren.“

Válasz Online (HU) /

Arbeitnehmer zum Zankapfel degradiert

Eine differenzierte Betrachtung des Gesetzes ist jetzt nicht mehr zu erwarten, bedauert das unabhängige konservative Onlineportal Válasz:

„Eine Modifizierung des Gesetzes ist unmöglich, seitdem das 'politische Panoptikum' auf der Straße ist und die Regierung der Einigung mit den großen Gewerkschaften den Rücken gekehrt hat. Im politischen Schlachtenlärm, in dem der Parlamentspräsident der Opposition das Wort entzieht, ist eine inhaltliche Auseinandersetzung unmöglich. ... Entwickelte Länder können nicht funktionieren ohne gut organisierte Arbeitnehmer. Bei uns ist aber nicht nur die Präsenz der Gewerkschaften schwach, sondern auch die staatlichen Kontrolleinrichtungen und Arbeitsschutzbehörden. Gute Gesetze stärken den Schutz der Arbeitnehmer, aber wenn eine komplexe Änderung ihrer Arbeitsbedingungen im Zuge politischer Auseinandersetzungen grob simplifiziert wird, passiert das Gegenteil.“