Massenproteste vor Wahl: Algerien lehnt sich auf

Algerien erlebt die größte Protestwelle seit Jahrzehnten. Seit der schwer kranke Präsident Abdelaziz Bouteflika Anfang Februar verlauten ließ, dass er bei der Präsidentschaftswahl Mitte April erneut kandidieren werde, demonstrieren Bürger gegen eine fünfte Amtszeit. Mittlerweile gehen landesweit Hunderttausende auf die Straße. Aus gutem Grund, finden Kommentatoren.

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Der Standard (AT) /

Die Fassade bröckelt

Die für Mitte April angesetzte Wahl in Algerien sollte verschoben werden, erklärt Der Standard:

„Zu viele Algerier und Algerierinnen weigern sich, eine weitere Amtszeit eines wegen Krankheit arbeitsunfähigen Langzeitpräsidenten zu akzeptieren. Bouteflika ... dient als Fassade für ein opakes System, das von Unsichtbaren - seinem Clan, Militärs, Geschäftsleuten - regiert wird. Aber diese Fassade bröckelt. ... Die Männer hinter Bouteflika haben nun ein kleines Zeitfenster, ihre geliebte Stabilität zu retten. Die für den 18. April geplanten Wahlen müssen verschoben und ganz neu aufgesetzt werden. Dabei sollten auch die anderen politischen Kräfte mitmachen - und nicht zuletzt die Demonstrantinnen und Demonstranten, die noch ein paar Wochen länger auf das Ende der Ära Bouteflika warten müssten.“

La Croix (FR) /

Das Land hat politische Reife erlangt

Dass sowohl die Demonstranten als auch die Staatsführung bislang friedlich geblieben sind, lobt La Croix. Doch nun müsse der Präsident auf die Proteste reagieren:

„Die Algerier jeden Alters brauchen Entwicklung, sie prangern die Intransparenz der Nomenklatura und an der Spitze des Staates an. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Unabhängigkeit hat das Land eine politische Reife erlangt, die ihm erlaubt, einen demokratischen Weg der Entwicklung zu suchen. Für Bouteflika, der vor 20 Jahren den Amnestievertrag aushandelte [der den Bürgerkrieg stoppen sollte und islamistischen Kämpfern Gnade garantierte], wäre es ein bemerkenswerter Schlusspunkt, wenn er den Hoffnungen der nächsten Generation Gehör schenkt.“

Ukrajinska Prawda (UA) /

Es reicht ein Funke

Eine Gewaltspirale könnte in Algerien durch viele denkbare Ereignisse in Gang gesetzt werden, warnt Ukrajinska Prawda:

„Tod von Protestierenden, Festnahme der Oppositionsführer, Verbreitung von Informationen über den Gesundheitszustand des Präsidenten. … In diesem Fall kann Algerien den gefährlichen Weg eines Konflikts einschlagen, der zu einem echten Krieg unter Beteiligung regionaler und globaler Spieler eskalieren könnte. ... Doch unter dem Druck der Straße (und wenn sich auch noch Frankreich diesem anschließt) und aus Angst vor einem Krieg könnten die Generäle nachgeben: Bouteflika durch einen anderen Kandidaten ersetzen, die Wahl verschieben, einen Oppositionskandidaten (von der Systemopposition) gewinnen lassen. ... Jedenfalls wird das Jahr 2019 entscheidend für die Zukunft Algeriens sein.“

Deutschlandfunk (DE) /

Bouteflikas Kandidatur ist eine Provokation

Präsident Abdelaziz Bouteflika hat in einem angeblich in einem Genfer Krankenhaus verfassten Brief Reformen versprochen und einen vorzeitigen Rückzug nach seiner Wiederwahl angekündigt. Damit wird er die Gemüter kaum beruhigen, kommentiert Nordafrika-Korrespondent Stefan Ehlert im Deutschlandfunk:

„Mein Eindruck ist vielmehr, dass die Machthaber in Algier viel dafür tun, damit die Lage so eskaliert, dass am Ende das Militär die Macht übernimmt. Übernehmen muss, wie uns die Militärs dann wissen lassen werden. Wie in Ägypten, Sudan, Simbabwe und anderen Staaten - an schlechten Vorbildern fehlt es ja nicht. Denn das, was da versprochen wurde, fordern Oppositionelle schon lange. Ihre wichtigste Forderung aber hat das Regime ignoriert: Dass Bouteflika nach 20 Jahren im Amt nicht mehr antritt. Ihn wieder ins Rennen zu schieben, dürften viele Algerier als Provokation verstehen. Zurecht.“

El Mundo (ES) /

Kein Mann für Algeriens Zukunft

Bouteflikas Zeit ist mehr als abgelaufen, findet auch El Mundo:

„Algerien ist ein Pulverfass kurz vor der Explosion. ... Die jungen Generationen haben die Angst verloren und verlangen die Absetzung des Mannes, der zwar nach einer blutigen Phase zur Stabilität beitrug, aber der Demokratie nie richtig die Türen öffnete. Mit seinen 82 Jahren kann der seit 2012 wegen seiner schlechten Gesundheit komplett von der öffentlichen Bildfläche verschwundene Bouteflika das nach Reformen und vor allem Freiheit strebende Land nicht anführen. Seine Entscheidung [zur erneuten Kandidatur] ist ein weiterer Beweis für seine autokratische Unbeweglichkeit. Dafür, dass es niemals seine Absicht war, einen Wandel anzuführen, sondern lediglich ein korruptes System mithilfe repressiver Machtanwendung auszunutzen“

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France Inter (FR) /

Armee handelt nach ägyptischem Vorbild

Parallelen zu Ägypten erkennt Anthony Bellanger, Kolumnist beim Radiosender France Inter:

„Wie in Ägypten hält in Algerien neben den Politikern auch die Armee einen Teil der Macht. ... 2011 hat die ägyptische Armee nicht auf die Menge geschossen, die den Rücktritt Hosni Mubaraks forderte. Sie hat den Präsidenten sich sein eigenes Ende bereiten und die Ägypter sich in Aufständen und Not erschöpfen lassen. Sie selbst hat nicht eine Kaserne, nicht eine Fabrik verloren, am Ende aber profitiert. Wahrscheinlich haben die algerischen Militärs und Sicherheitskräfte genau das im Sinn: Nicht auf die Menge schießen, um diese nicht aufzubringen und sich die Möglichkeit vorbehalten, den zu lästigen Bouteflika-Clan zu stürzen, aber dessen Interessen zu wahren. Oder kurz gesagt: Sterben, vielleicht; das Geld hergeben, nie!“