Ein Jahr von der Leyen: Besonnen oder zauderhaft?

Das erste Amtsjahr verlief für Ursula von der Leyen anders als erwartet. Die EU kämpft mit der Corona-Pandemie und dadurch bedingt mit der schwersten Rezession in ihrer Geschichte. Von der Leyens Prestigeprojekt, der Green Deal, scheint vorerst hintangestellt. Beobachter fragen sich, ob von der Leyen den Aufgaben gewachsen ist.

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La Repubblica (IT) /

Die große Gelegenheit erkannt

Nach einem holprigen Start hat Ursula von der Leyen ihre Linie gefunden, analysiert La Repubblica:

„Seit [der Entscheidung zum 750 Milliarden schweren Unterstützungsfonds] bewegt sie sich (abgesehen von dem wenig ehrgeizigen Vorschlag zu den Migranten) sicher und fehlerfrei. Sie versucht, die historische Gelegenheit zu ergreifen, Europa dank der wiedergefundenen Harmonie zwischen Paris und Berlin neu zu beleben. Das ist das Erfolgsrezept eines jeden EU-Kommissionschefs und einige glauben, dass sie dies - sollte die deutsch-französische Achse halten - gar zu einem Jacques Delors machen könnte. Doch gibt es Leute, die ihr ein vertikales Management der Kommission und mangelnden Schneid gegenüber den Staatschefs vorwerfen. Tatsache ist, dass die Atmosphäre in Europa dank ihrer Höflichkeit (die große Entschlossenheit verbirgt) weniger konfrontativ erscheint.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Konflikte müssen ausgefochten werden

Von der Leyen muss ihren Stil ändern, findet die Süddeutsche Zeitung:

„Es reicht nicht, pathetische Reden zu schwingen: Von der Leyen muss auch manchmal den offenen Konflikt mit renitenten Regierungen suchen, muss sie in die Schranken weisen und Druck machen. So ist ihre vornehme Zurückhaltung gegenüber Ungarn ein Ärgernis. ... Generell sollte von der Leyen bei dem [Corona-]Fonds auf harte Auflagen und Kontrollen drängen, damit Mittel nicht verschwendet werden. Dass Italien und Spanien dies als unbotmäßige Einmischung ansehen würden, ist kein Hinderungsgrund, sondern Ansporn. Von der Leyen stehen also vier Jahre voller Konflikte bevor. Sie muss sie annehmen und ausfechten, denn der Preis des Scheiterns wäre hoch.“