Giscard d'Estaing: Tod eines großen Europäers

Der frühere französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing ist 94-jährig an Covid-19 gestorben. Giscard, der von 1974 bis 1981 im Elysée residierte, bemühte sich außenpolitisch insbesondere um eine Aussöhnung mit Deutschland. Innenpolitisch trat er mit den Worten "Das einzige, was mich interessiert, ist Wandel" als Modernisierer an. Für Europas Presse ist seine Bilanz in beiden Bereichen beeindruckend.

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Corriere della Sera (IT) /

Frankreichs Modernisierer

Giscard d'Estaing war zwar konservativ, aber dennoch ein Präsident des Fortschritts, erinnert Paris-Korrespondent Massimo Nava in Corriere della Sera:

„Mit 48 Jahren als jüngster Präsident in den Elysée-Palast gewählt - ein Rekord, den erst Emmanuel Macron unterbot - stand er für die Modernisierung der französischen Gesellschaft und die Erneuerung der bis dahin gaullistisch geprägten Rechten. Seine siebenjährige Amtszeit war gekennzeichnet durch wichtige zivile Reformen, die Herabsetzung der Volljährigkeit und des Wahlalters, die Entkriminalisierung der Abtreibung und eine Politik der wirtschaftlichen Liberalisierung. ... Auch die Pläne für den Hochgeschwindigkeitszug TGV, die entscheidende Wiederbelebung der Kernenergie und die ersten Schritte in der Informationstechnologie fallen in die Zeit seiner Präsidentschaft“

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Hospodářské noviny (CZ) /

Von Erbfeinden zu Freunden

Hospodářské noviny würdigt vor allem Giscards Tandem mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt:

„Beide Partner waren verbunden durch einen hohen Intellekt und ihre Kriegserfahrungen, wenn auch auf der jeweils anderen Seite der Front. Sie hatten eigentlich auch eine andere Herkunft und politische Ausrichtung. Auf der einen Seite der große französische Marquis, der die wirtschaftliche Liberalisierung zu Hause förderte. Auf der anderen Seite der untersetzte Führer der deutschen Sozialdemokratie, ein Anhänger des Wohlfahrtsstaates. ... Das Duo Giscard-Schmidt ähnelte Adenauer und de Gaulle sowie Mitterrand und Kohl. Sie waren sich einig im Glauben, dass die 'Erbfeinde' kooperieren müssen, um Europa zusammenzuhalten, statt den Kontinent mit ihren Konflikten zu erschüttern.“

Wsgljad (RU) /

Solche Politiker fehlen im heutigen Europa

Für Vzglyad verkörperte Giscard d'Estaing eine untergegangene Epoche europäischer Visionäre:

„Heute lässt die deutsche Vorherrschaft in der EU mit ihrer festen großmütterliche Umarmung keinen Freiraum mehr für lebhafte Vorwärts-Politik. Der französische Aufbruch wird durch Senioren-Wirtschaft und deutsche Sparsamkeit ersetzt, die alles diktiert. Der Höhenflug in der Ära der ersten Präsidenten der Fünften Republik war wohl der letzte in der Geschichte der französischen Grandeur. Schon drei Amtsperioden lang zappelt das Land in einem Haufen Problemen herum, für die keine Lösungen in Sicht sind. ... Im Vergleich zu heutigen europäischen Politikern war Giscard d'Estaing eine Ausnahme-Persönlichkeit von historischem Maßstab.“