Was ist von Italiens Migrationsnotstand zu halten?

Italien hat einen sechsmonatigen Ausnahmezustand ausgerufen und dies mit der steigenden Zahl ankommender Migranten begründet. In dieser Zeit kann Giorgia Melonis Regierung Maßnahmen ohne Beteiligung des Parlaments durchsetzen, zum Beispiel ihr Anliegen, Zahl und Kapazität der Aufnahme- und Abschiebezentren zu erhöhen. Rom fordert aber auch mehr Unterstützung von der EU. Europas Presse diskutiert, wie es nun weitergehen kann.

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Avvenire (IT) /

Auf dem Weg zur Unmenschlichkeit

Der Notstand könnte missbraucht werden, befürchtet Avvenire:

„Die Regierung weist darauf hin, dass die Zahl der Anlandungen viel höher ist als in der Vergangenheit. Und sie erklärt, dass der Ausnahmezustand genutzt werden kann, um die Zurückweisungen zu beschleunigen. Dies – und das ist es, was diejenigen befürchten, die sich mit der Aufnahme von Migranten befassen - , könnte jedoch dazu genutzt werden, rasche Abschiebungen durchzuführen, ohne den rechtlichen Status oder die menschliche Situation derjenigen zu berücksichtigen, die auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Verfolgung oder schwerer Erniedrigung in Italien angekommen sind.“

La Repubblica (IT) /

Das wahre Gesicht von Giorgia Meloni

La Repubblica wettert:

„Giorgia Melonis aufgewühltes Verhältnis zu allem, was mit Einwanderung zu tun hat, wirft nun ein wenig mehr Licht auf den politischen Weg der neuen italienischen Regierungschefin. … Der Grund für die Ausrufung des nationalen Notstandes ist der starke Anstieg der Zahl der Menschen, die versuchen, das Meer zu überqueren, auch aus nordafrikanischen Ländern, die bisher nicht in das Netz der Reiserouten eingebunden waren. Doch die Ausrufung des 'Ausnahmezustands' bedeutet eine Verschärfung aller Maßnahmen, öffnet der Willkür lokaler Behörden Tür und Tor, ermöglicht Interventionen selbst in Zweifelsfällen und deutet jedes Anzeichen eines Wandels in eine Gefahr um.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Italien braucht die Hilfe der EU

Melonis Maßnahme erfordert nun koordinierte Reaktionen, betont Marc Beise, Italien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung:

„Melonis Dekret ist ... auch ein Signal an Europa, dass Italien Hilfe braucht. Die EU-Kommission wird den italienischen Notstandsplan jetzt prüfen. Das ist schon mal gut, weil Brüssel nicht umhinkommt, sich der Situation intensiver zu widmen, als das bisher der Fall war. Es braucht jetzt massive gemeinsame Anstrengungen, um die sich anbahnende Eskalation der Lage zu verhindern: in Brüssel, in Italien, in Tunesien, wo Hunderttausende auf die Überfahrt warten, und auch in den vielen anderen Ländern, aus denen die Flüchtenden kommen. Die Zeit rast.“

De Volkskrant (NL) /

Alles nur Show

De-Volkskrant-Korrespondentin Rosa van Gool winkt ab:

„Mit dem Finger auf Brüssel zu zeigen ist fester Bestandteil des rituellen Tanzes in der festgefahrenen italienischen Migrationspolitik. Außerdem ist sehr fraglich, wie gerechtfertigt die Notrufe sind. In Italien kommen zwar viele Menschen an, aber viele Flüchtlinge reisen weiter, ohne sich dort zu registrieren. ... Außerdem ist es ein offenes Geheimnis, dass die illegalen Migranten, die in Italien bleiben, oft als Landarbeiter enden, die Tomaten oder Salat für einen Hungerlohn pflücken, für den kein Italiener diese Arbeit tut. Ohne illegale Migranten würde ein Teil der italienischen Wirtschaft zusammenbrechen.“

El Español (ES) /

Bremsklotz für EU-Pakt

Es wird schwer für Spanien, während seiner EU-Ratspräsidentschaft ab Juli viel für eine europäische Lösung zu erreichen, befürchtet El Español:

„Giorgia Melonis Kampfansage ist heftig. Ihre Ausrufung des Notstands verstößt nicht nur gegen die Grundrechte der Migranten. ... Massenhafte Razzien, Notausweisungen und die Errichtung von Ad-hoc-Internierungslagern verstoßen auch gegen EU-Recht. ... Nächste Woche soll das Europäische Parlament seinen Bericht den neuen Migrations- und Asylpakt verabschieden. Genau deswegen ist Pedro Sánchez vor einer Woche nach Rom gereist, um mit Meloni zu paktieren. ... Wenn Italien Spaniens wichtigster Partner ist, um eine so wichtige gemeinsame Gesetzgebung zu erreichen, dann steckt unsere EU-Präsidentschaft schon in Schwierigkeiten, bevor sie angefangen hat.“