Vom Präsidenten zum Häftling: Was zeigt der Fall Sarkozy?  

Nicolas Sarkozy sitzt seit Dienstag im Gefängnis. Der ehemalige Staatschef wurde im September "wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung" in einem Prozess um illegale Wahlkampffinanzierung verurteilt. Zwar hat der 70-Jährige Berufung eingelegt, die fünfjährige Haftstrafe musste er aber dennoch antreten. Europas Presse beleuchtet die gesellschaftliche Dimension dieses für Frankreich einmaligen Vorgangs.

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The Guardian (GB) /

Niemand steht über dem Recht

Dass Sarkozy seine Haftstrafe tatsächlich antreten musste, ist enorm wichtig für das Vertrauen der Franzosen ins Rechtssystem, glaubt The Guardian:

„In einer Zeit, in der das Vertrauen in die politischen Institutionen Frankreichs so weit erschüttert ist, dass bereits alle Warnleuchten blinken, war dies auch eine heilsame Demonstration dafür, dass niemand über dem Gesetz steht. In einer am Dienstag in der Zeitung Le Monde veröffentlichten Umfrage gaben zwei Drittel der Befragten an, sie glaubten, die Mehrheit der Politiker sei korrupt, und fast neun von zehn meinten, die meisten handelten vor allem aus Eigeninteresse.“

Polityka (PL) /

Frankreich ist in dieser Frage gespalten

In Frankreich gibt es zwei diametral verschiedene Perspektiven auf das Urteil, schreibt Polityka:

„Die Rechte um Marine Le Pen sieht in ihm einen Beweis für die Politisierung der Justiz. Die Linke hingegen ist der Meinung, dass die Justiz lediglich ihren Pflichten nachgehe und man stolz darauf sein könne, dass in Frankreich selbst höchstrangige Politiker nicht anders behandelt werden als ein gewöhnlicher Bürger.“

La Repubblica (IT) /

Spiegel des Konflikts zwischen Volk und Elite

Hier sind Rachegelüste im Spiel, meint La Repubblica:

„Es gibt eine weit verbreitete revanchistische Bewegung der Rache und Wiedergutmachung, die typisch für den jahrhundertealten Konflikt zwischen Volk und Elite ist, heute jedoch durch den Zeitgeist stark radikalisiert wird. … Diese akute Spannung zwischen 'der Masse' und den herrschenden Klassen ist das wichtigste Merkmal aller populistischen Politiken, sowohl der rechten als auch der linken. In diesem Szenario bietet die Inhaftierung Sarkozys die Gelegenheit, viele der Stimmungen zu bündeln, die die französische Gesellschaft prägen: von 'Rebellion ohne Grund' bis zum Hass gegen die Reichen und Mächtigen, von der Verachtung der Politik und der Politiker bis zur Feindseligkeit gegenüber dem Kosmopolitismus, die die Führungsschicht auszeichnet.“

Mediapart (FR) /

Fehlende kritische Distanz

Der Journalist Fabrice Arfi, der die Hintergründe aufdeckte, die zu Sarkozys Verurteilung führten, schreibt in Mediapart und wirft den Medien Oberflächlichkeit bei der Berichterstattung über den Fall vor:

„Schon früh am Morgen waren Fernseh- und Radiosender zur Stelle, um den letzten PR-Coup des Sarkozy-Clans vor seiner Inhaftierung zu begleiten – und übernahmen dabei einmal mehr vollständig das von seiner Verteidigung vorgegebene Narrativ. ... Am Nachmittag, wenige Stunden nachdem Sarkozy die Schwelle des Gefängnisses Santé überschritten hatte, waren die 24-Stunden-Nachrichtensender bereits zum nächsten Thema übergegangen. Wie jedes Mal hatten Fernsehen und Radio, die den Gerichtssaal während der dreimonatigen Verhandlung über die libyschen Wahlkampffinanzierungen weitgehend gemieden hatten, nur Interesse an den Folgen – der Verurteilung und der Inhaftierung – und nie an den Ursachen.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Die übliche Prozedur

Dass Sarkozy wie ein normaler Krimineller noch vor seinem Berufungsprozess ins Gefängnis muss, findet der Frankreich-Korrespondet der taz, Rudolf Balmer, durchaus gerechtfertigt:

„Das Gericht entscheidet dies, wenn zu befürchten ist, dass weitere Straftaten drohen, Fluchtgefahr besteht oder das Risiko einer Vernichtung von Beweisen oder Beeinflussung von Zeugen. Diese Kriterien sind bei Sarkozy erfüllt. ... Selbst wenn das heute seine Fans wie eine Majestätsbeleidigung empört – Sarkozy erfährt die übliche Prozedur. Solange er nicht definitiv verurteilt ist, kann er seine Unschuld beteuern. Doch die belegten Fakten bleiben, Sarkozy wurde in mehreren Verfahren verurteilt. Das ist zu viel, um das Opfer eines tragischen Justizirrtums zu spielen.“

Le Figaro (FR) /

Der wahre Verlierer ist die Justiz

Le Figaro sieht Willkür und ideologische Rache bei der Verurteilung am Werk:

„Selbst seine Gegner erkennen an, dass Nicolas Sarkozy in dieser Krise eine Mischung aus Würde, Eloquenz und romanhaftem Temperament an den Tag legt. … Er hat es gesagt: Es geht nicht um seine Freiheit, sondern um seine Unschuld. … Mittlerweile geht diese Geschichte über ihn hinaus – ebenso wie über die Richter, die das Urteil gefällt haben. Diese Geschichte setzt die Justiz dem Verdacht der Willkür, der ideologischen Rache und des Machtwillens aus: Ist die Waage der Gerechtigkeit aus dem Gleichgewicht geraten? Wenn Nicolas Sarkozy das Gefängnis betritt, verliert er vorübergehend seine Freiheit, aber die Justiz verliert für lange Zeit ihre Glaubwürdigkeit.“

Libération (FR) /

Zeichen von Unabhängigkeit

Nicht das Urteil, sondern die rechtswidrigen Taten Sarkozys sollten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, betont Libération:

„Das Ziel all dieser Aufregung ist es natürlich, unseren Blick davon abzulenken, dass ein ehemaliger Präsident Frankreichs zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, weil er Teil einer kriminellen Vereinigung war. Eine Verurteilung, die keinen Grund zur Freude liefert. Es ist aber auch ein Urteil, bei dem es keinen Grund gibt, es nicht anzuerkennen. Denn es wurde von einer unabhängigen Justiz ausgesprochen, die sich vom großen Lärm und der Wut über die 'Majestätsbeleidigung' nicht beeinflussen ließ.“