Türkei: Mehr als 2000 Jahre Haft für Imamoğlu gefordert

Knapp acht Monate nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu hat die türkische Staatsanwaltschaft laut Staatssender TRT bis zu 2430 Jahre Haft für Präsident Erdoğans stärksten Rivalen gefordert. Sie wirft ihm unter anderem Korruption und Leitung einer kriminellen Vereinigung vor. Die Verhaftung des CHP-Politikers im Frühjahr hatte landesweit zu Massenprotesten geführt.

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Cumhuriyet (TR) /

Unschuldsvermutung ausradiert

Der einzige Vorwurf, der sich aus der Anklageschrift herauslesen lässt, ist, dass İmamoğlu als Bürgermeister tätig war, kommentiert Cumhuriyet:

„Der Ansatz der Anklageschrift zeigt, dass jeder Schritt, den Imamoğlu unternommen hat, um die Wahlen zu gewinnen, als kriminelle Handlung gewertet wird. ... Zum allgemeinen Tenor der Anklageschrift lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt Folgendes sagen: Es handelt sich um einen Text, der nach Politik riecht. Von der Sprache bis zum Inhalt wurden die Grenzen der Rechtsprechung überschritten. Die Unschuldsvermutung wurde durch die Schuldvermutung ersetzt. Über die monatelangen Behauptungen der regierungsnahen Medien hinaus scheint es keine neuen Erkenntnisse zu geben.“

Birgün (TR) /

Politische Ambitionen zum Verbrechen gestempelt

Wenn das Streben nach politischer Macht strafbar ist, hätte auch Erdoğan angeklagt werden müssen, schimpft Journalist Timur Soykan in Birgün:

„Warum gilt der Wunsch, Präsident werden zu wollen, als ein Verbrechen? ... Träumen nicht Tausende von Menschen in der Türkei und weltweit davon, politische Macht zu erlangen? Ist es ein Verbrechen, Politik zu betreiben, um an die Macht zu kommen? Tayyip Erdoğan beispielsweise hat eine politische Karriere hinter sich, die ihn vom Bürgermeisteramt der Stadt Istanbul bis zum Präsidentenamt geführt hat. Ist das ein Verbrechen? Die Staatsanwaltschaft hat Dutzende von Straftaten für die Definition einer kriminellen Vereinigung, die das Präsidentenamt anstrebe, aufgeführt und die Taten dann als Beweise für eine solche Organisation dargestellt.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Erdoğan will seine Gegner nachhaltig einmauern

Laut Tages-Anzeiger will der türkische Präsident sein Land dauerhaft prägen und dabei Widersacher endgültig loswerden:

„Erdogan wollte eine Art zweiter Republikgründer sein, etwas ganz Neues schaffen, worin politische Kräfte aus der alten Zeit keinen Platz mehr hätten. Wie stark nun die CHP ist, die älteste Partei im Land, dass sie bei den Kommunalwahlen so gut wie alle grossen Städte gewann – es muss an Erdoğan nagen. Es muss ihm, so weit darf man in seinen Kopf schauen, wie eine Niederlage vorkommen: Die alte Republik ist noch da. Noch hat er sie nicht ganz beseitigen können. Zwei Jahrtausende für Ekrem Imamoglu, was heisst das? Dass Recep Tayyip Erdogan endgültig eine Mauer um seine Gegner bauen will. Eine, die vielleicht sogar ihn selbst überdauert.“

Der Spiegel (DE) /

Brücken für die Demokraten bauen

Der ehemalige Türkei-Korrespondent des Spiegels, Maximilian Popp, fordert eine klare Haltung:

„Eben weil die Türkei für Deutschland und Europa so wichtig ist, verdient sie es, dass man sich ernsthaft mit ihr auseinandersetzt. Und das heißt nicht nur, aber eben auch, sich immer wieder mit dem Niedergang der Demokratie dort zu beschäftigen, sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft zu treffen (wie es Merz zuletzt getan hat), Brücken für türkische Demokratinnen und Demokraten nach Europa zu bauen. Wenn der türkische Präsident seinen wichtigsten Rivalen unter fadenscheinigen Gründen wegsperrt, dann muss der Bundeskanzler dafür Worte finden.“