Kann die Grillo-Partei mehr als nur Protest?

Mit Virginia Raggi und Chiara Appendino ziehen zwei Kandidatinnen des Movimento Cinque Stelle in die Rathäuser von Rom und Turin ein. Kommentatoren nehmen die von Kabarettist Beppe Grillo gegründete Protestpartei unter die Lupe und fragen sich, ob sie zum Regieren überhaupt in der Lage ist.

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Le Monde (FR) /

Die Partnerwahl ist entscheidend

Nach ihren Wahlsiegen in Rom und Turin muss sich die Bewegung, die laut ihren beiden neuen Bürgermeisterinnen für alle regieren und mit allen zusammenarbeiten will, für eine Richtung entscheiden, analysiert Le Monde:

„Zwei mögliche Wege bieten sich ihr: der einer offenen Zusammenarbeit mit Renzis Partei oder der entgegengesetzte eines stillschweigenden Abkommens mit der Lega Nord, den richtungslosen Verantwortlichen von Silvio Berlusconis Partei Forza Italia und der extremen Linken, die hinter dem gleichen Ziel vereint sind: den Premier beim Referendum zur Senatsreform im Oktober zu stürzen. Der erstgenannte Weg würde ein Bild von Einheit und gutem Willen erzeugen, das Märkte und Partner beruhigen würde. Die zweite Option verspricht eine chaotische Zukunft.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Sieg der Nein-Sager

Will sie eine ernstzunehmende Rolle in der italienischen Politik spielen, muss Beppe Grillos Bewegung mehr bieten, als nur pure Ablehnung des Establishments, fordert die Neue Zürcher Zeitung:

„Sieger der Lokalwahlen in Italien ist Beppe Grillo. Er, der im Wahlkampf kaum sichtbar war, ist zum Anführer der vereinigten Nein-Sager aufgestiegen. Etwas anderes als Nein hat er kaum je gesagt, seit er auf der politischen Bühne in Erscheinung getreten ist. Er hat zwar stets Reformen gefordert, aber nie hat er zur Ausarbeitung und Umsetzung von solchen beigetragen. ... Jetzt sagt Grillo: 'Das ist erst der Anfang.' Der Anfang wovon? Das weiss niemand, wahrscheinlich auch er selber nicht. Er verspricht nur, 'alles' werde sich ändern. Das ist wenig konkret. In Rom und weiteren Städten müssen er und seine Anhänger zuerst noch beweisen, dass sie mehr können, als nur Nein zu sagen.“

Der Standard (AT) /

Eine sektenhafte Bewegung

Bei Movimento Cinque Stelle (in Italien kurz M5S genannt) handelt es sich um eine zweifelhafte Organisation, warnt Der Standard:

„Nicht zuletzt wirft auch die sektenhafte Struktur des M5S Fragen auf. Raggi und Appendino mussten wie alle anderen Amtsträger der Protestbewegung einen Vertrag mit Grillo und dessen 'Staff' unterschreiben, mit dem sie sich verpflichteten, beim Regieren die Ziele und Ideale der Bewegung hochzuhalten; bei Zuwiderhandlung wird eine Buße von 150.000 Euro oder ein Ausschlussverfahren fällig. Außerdem müssen die beiden Bürgermeisterinnen sämtliche 'wichtigen Entscheidungen' dem 'Staff' zuvor zur Prüfung unterbreiten. Falls Raggi und Appendino nicht rasch Erfolge vorweisen können, werden sich vermutlich bald nicht mehr nur die politischen Gegner, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger Italiens fragen, wie es mit der Unabhängigkeit ihrer Stadtoberhäupter bestellt sei.“

ABC (ES) /

So begann es auch mit Podemos in Spanien

Italiens Premier Renzi ist gut beraten, nach Spanien zu schauen, rät die konservative ABC mit Blick auf die Bürgermeisterinnen von Madrid und Barcelona, Manuela Carmena und Ada Colau, die mit Unterstützung des Linksbündnisses Podemos regieren:

„Die spanische Erfahrung sollte [Renzi] zur Vorsicht mahnen. Denn die Kommunalpolitik hat sich als wirksame Plattform für die Propaganda der populistischen Bewegungen entpuppt. Vor allem, wenn sie auf so großzügige - und selbstmörderische - Unterstützung, wie die der Sozialisten bauen können. Allerdings ist [Roms neue Bürgermeisterin] Raggi kein direktes Pendant zu Carmena oder Colau. Raggis Attacken gegen die Linke und die Rechte haben die Kaste an sich zum Ziel und zeigen, dass sie in einem postideologischen Populismus beheimatet ist. Dieser zieht Extreme an, die nicht mehr gemein haben, als die Abscheu gegen das System.“

La Stampa (IT) /

Revolte gegen die Mitte-links-Aristokratie

Die Niederlage hat die PD von Premier Renzi sich selbst zuzuschreiben, konstatiert die liberale La Stampa:

„Die Wahlergebnisse von Rom und Turin erzählen von einer Revolution. Eine Revolte gegen das Ancien Régime, das eben genau von dem Renzi verkörpert wird, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dieses zu verschrotten. Angeführt wird die Revolte von einem neuen Dritten Stand. Er setzt sich aus Gesellschaftsschichten zusammen, die von der Wirtschaftskrise geschwächt und von der Mitte-links-Aristokratie von der Machtausübung ausgeschlossen wurden. Zum ersten Mal in der Geschichte äußert sich die Wut der Römer und der Turiner in der totalen Ablehnung jeder Figur, die konsolidierte politische Erfahrung mitgebracht hat. ... Im Gegenteil, die Abscheu gegenüber Polit-Profis sitzt so tief, dass die Unerfahrenheit der beiden Fünf-Sterne-Damen [Virginia Raggi in Rom und Chiara Appendino in Turin] als Verdienst gewertet wurde. Wie wenn bei einer Meuterei die Besatzung das Kommando nicht dem Zweiten Offizier anvertraut, sondern dem Schiffsjungen.“

Corriere della Sera (IT) /

Schallende Ohrfeige für Renzi

Nun ist es vorbei mit der Hoffnung, Renzi könne seine PD aus der Krise führen, meint der liberal-konservative Corriere della Sera:

„Die Niederlage der regierenden Mitte-links-Partei wirft ein Systemproblem auf, denn die Alternative, die heranreift, hat das Profil von Beppe Grillo. Es besteht jetzt die Gefahr, dass sie bei der Regierung Angst- und Erschöpfungszustände hervorruft, gegen die die Parteispitze auch psychologisch ankämpfen müsste. Noch sieht man keine neue Mehrheit, die an die Stelle der derzeitigen treten kann, um Italien zu regieren. Doch gestern war ein Wendepunkt, der jede Illusion vernichtet. ... Für Renzi ist die Ohrfeige am schmerzhaftesten, denn sie zerstört sein Narrativ des Optimismus. Die Wahlen hätten ihn, der seit zweieinhalb Jahren Parteichef und seit über zwei Jahren Regierungschef ist, zu der Führungskraft machen sollen, die es geschafft hat, die Mitte-links-Partei umzugestalten und ihr eine zentrale Rolle in der Politik zu verleihen.“

Financial Times (GB) /

Populismus hilft nicht gegen Grillo-Partei

Anstatt wie zuletzt auf populistische Steuergeschenke sollte sich Renzi nun wieder auf seine ursprüngliche Agenda konzentrieren, rät die Financial Times dem Premier:

„Was das Thema Reformen betrifft, hat der Regierungschef aus Sicht einiger Unterstützer nur eine enttäuschend inkonsequente Bilanz vorzuweisen. ... Wenn die Kommunalwahlen in zwei Wochen abgeschlossen sein werden, muss Renzi wieder die Initiative ergreifen. Er sollte der Versuchung widerstehen, Beppe Grillo damit auszutricksen zu versuchen, dass er weiter auf populistische Maßnahmen setzt. Stattdessen sollte er sich an sein Reformprogramm halten in der Hoffnung, dass dieses vor der Parlamentswahl 2018 ein verbessertes Wirtschaftswachstum liefern kann. Einen solchen Kurs zu halten, wird nicht leicht sein. Doch nur so kann Renzi garantieren, dass seine Regierung Italien tatsächlich verändert.“

La Tribune de Genève (CH) /

Renzis Stern könnte schnell verblassen

Das schlechte Abschneiden des Partito Democratico bei den Kommunalwahlen könnte darauf hindeuten, dass Renzi den Höhepunkt seiner Macht bereits hinter sich hat, analysiert La Tribune de Genève:

„Der junge Premier, der gerade einmal 41 Jahre alt ist und im Februar 2014 durch einen rücksichtslosen Putsch innerhalb seiner Partei die Macht erlangt hat, wollte seine Politik im Eiltempo durchsetzen und dadurch traditionelle Praktiken und Gleichgewichte aufbrechen. Doch obwohl er unleugbare Erfolge erzielt hat - vor allem mittels der Durchsetzung einer Arbeitsmarktreform, die François Hollande vor Neid erblassen lassen würde - hat Renzi bei Weitem nicht die versprochenen Ziele erreicht. Daher könnte der Stern des jungen Reformpolitikers, dem eine große Zukunft vorausgesagt wurde, schnell verblassen. Das ist sicher der Grund, warum Matteo Renzi in bester Pokermanier bereits angekündigt hat, dass er zurücktreten werde, sollte seine Verfassungsreform in dem für Oktober geplanten Referendum abgelehnt werden.“

La Repubblica (IT) /

Linke wählen Sozialdemokraten nur aus Tradition

Renzi hat es nicht geschafft, die sozialdemokratische Wählerschaft Italiens wirklich anzusprechen, kritisiert La Repubblica:

„Der müde Leib der Partei ist zur Wahl gegangen und hat den Rest des Apparats mobilisiert: Die Interessengruppen rund um die Kandidaten und den Teil der öffentlichen Meinung, der nicht nur Zuschauer der Politik sein will und weiterhin auf die Tradition der italienischen Linken setzt, indem er ihr durch alle Veränderungsprozesse folgt. Dieser Teil wird durch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Geschichte angetrieben, weniger aufgrund von aktuellen Ereignissen. Er glaubt, sich für Werte zu engagieren, die die europäische und westliche Kultur zu dem gemacht haben, wie wir sie kennen. Aber die Seele der Partei ist zu Hause geblieben und es wird schwierig, sie wiederzufinden.“

Der Standard (AT) /

Ein neues Kapitel in Italiens Politik

Renzi muss sich künftig vor einer Protestbewegung fürchten, glaubt Der Standard:

„Wenn schon dieser Tage überall das politische Establishment abgestraft wird, warum dann nicht auch in Rom? Das haben sich wohl viele Wählerinnen und Wähler gedacht, als sie am Sonntag bei Virginia Raggi, Kandidatin der Protestpartei des Komikers Beppe Grillo, ihr Kreuzerl machten und sie mit einer deutlichen Mehrheit für die Stichwahl in zwei Wochen ausstatteten. ... Doch auch wenn Raggi scheitern sollte: Der machtbewusste sozialdemokratische Ministerpräsident Matteo Renzi muss sich künftig weniger vor der Rechten fürchten - Forza Italia und Lega Nord sind nicht auf Schlagdistanz -, sondern ausgerechnet vor einer Protestbewegung, die eigentlich nie Regierungspartei sein wollte. Auch in Italien wird die Politik grundlegend neu geschrieben.“