Nahles-Rückzug: Woran krankt die SPD?

Eine Dreierspitze aus den Ministerpräsidentinnen Manuela Schwesig und Malu Dreyer sowie Hessens Parteichef Thorsten Schäfer-Gümbel soll die SPD vorerst führen. SPD-Chefin Nahles war am Sonntag zurückgetreten, nachdem die Sozialdemokraten bei der Europawahl eine historische Schlappe erlitten hatten. Die Ursachen für ihren Niedergang liegen aber nicht allein in der SPD selbst, meinen Kommentatoren.

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Deutsche Welle (RO) /

Merkel hat schamlos gewildert

Merkel hat die Krise der SPD mitverursacht, meint der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:

„Um ihre Macht zu sichern, zu der sie wegen der strengen Arbeitsmarktreformen gekommen ist, die vom früheren SPD-Chef Schröder eingeführt worden waren und paradoxerweise die SPD schwächten, ist Merkel eine Menge Kompromisse eingegangen. ... Sie hat die Werte und die bürgerlich-christliche Wählerbasis vernachlässigt und wechselte ins fortschrittliche und politisch-korrekte Lager des politischen Spektrums. Dort hat sie schamlos immer mehr sozial-demokratische Positionen übernommen und erfolgreich Wähler gewonnen. … So begann der historische Fall der SPD, einer Massenorganisation, die berühmte Kanzler wie Willy Brandt hervorgebracht hat, und die jetzt nicht nur ihre Chefin verloren hat, sondern auch ihr Gleichgewicht, das sie aus ihrer Position in der Mitte gezogen hatte.“

De Tijd (BE) /

Technokratischer Regierungsstil wurde bestraft

De Tijd nennt einen anderen Grund, warum die Kanzlerin an der derzeitigen Notlage der Sozialdemokraten nicht ganz unschuldig ist:

„Der europäische Wähler hat einen Schlag ausgeteilt. ... Er strafte die Technokratie der Mitte ab. Ein Regierungsstil, bei dem nicht mehr geführt wurde, sondern nur verwaltet. Das war das Kennzeichen von Merkel. ... Deutschland war aus historischen Gründen lange eine sehr stabile Demokratie. Daher ist die Wende dort so besonders. Die Aussage, dass die klassische Zweiteilung von links und rechts vorüber ist, scheint nun erwiesen. Die Frage ist, ob zwischen der Mitte und den Extremen noch eine funktionsfähige Politik übrig bleibt.“

Iswestija (RU) /

Niedergang begann schon 1966

Die vergangenen Jahre der großen Koalition haben der SPD nur den letzten Rest gegeben, ihr Niedergang begann viel früher, wirft die Politologin Jewgenia Pimenowa in Iswestija ein:

„Während der Jahre als Juniorpartner der CDU hat sich die Parteielite mental in Staatsbeamte verwandelt, die die Verbindung zur realen Tagesordnung und den politischen Wünschen ihrer Wähler verloren haben. ... Die ideelle Aushöhlung der Sozialdemokratie begann aber mit der Formierung der ersten großen Koalition 1966. ... Die beiden Partner waren gezwungen, sich einander anzupassen. Die Erosion der sozialistischen linken Ideen in der SPD führte zum Aufkommen neuer Kräfte, die jene Programmpunkte verfolgten, die der immer zentristischer werdenden SPD bitter fehlten. So erschienen in der Politarena die Grünen und die Linken, die diese Nische besetzten.“

Spiegel Online (DE) /

Jetzt gibt es nichts mehr zu verlieren

Die SPD muss sich nun komplett erneuern, meint Spiegel Online:

„Personell liegt das ohnehin nahe. ... Programmatisch besteht nun die Chance, zu neuer Klarheit zu finden, und ja: zu neuer Radikalität. Jede Partei braucht in dieser neuen Zeit einen Kern, wenn sie wahrgenommen werden will. Man kann die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, die gerade entsteht, beklagen. Aber so zu tun, als gäbe es sie nicht, ist keine Strategie. Die Grünen stellen in der Klimapolitik die Systemfrage, die SPD muss das in der Sozial- und Wirtschaftspolitik tun. ... Und strategisch heißt die Nahles-Zäsur: Raus aus der Großen Koalition. ... Natürlich sind Neuwahlen riskant. Aber zu verlieren hat die SPD jetzt nichts mehr. Das ist, so verrückt das wirken mag, ihre Chance.“

Die Presse (AT) /

Von wem die SPD lernen kann

Die Presse empfiehlt der SPD, sich auf der Suche nach einem Erfolgsrezept für die Zukunft in Europa umzusehen:

„Die dänischen Sozialdemokraten sind derzeit erfolgreich auf populistischem Kurs unterwegs. Sie folgen gleichsam den Wünschen ihrer traditionellen Wählerklientel, haben einen restriktiven Kurs in der Ausländerpolitik eingeschlagen und zugleich ihre Wirtschaftspolitik stärker links akzentuiert. So werden sie am Mittwoch bei den Parlamentswahlen vermutlich siegen. ... Es kann auch klappen, das urbane Publikum anzusprechen und weite Teile der Arbeiterschaft rechts liegen zu lassen. Dafür aber müssen Sozialdemokraten personell überzeugen. Mit Andrea Nahles oder Martin Schulz brauchte die SPD gar nicht erst versuchen, in grün-urbane Milieus vorzudringen. In Spanien indes ist das dem Chef der Sozialisten, Pedro Sánchez, zumindest bei der Europawahl geglückt.“

Jutarnji list (HR) /

EU kann Krise in Berlin nicht gebrauchen

Ein Ende der Regierung Merkel wäre das Letzte, was die EU jetzt braucht, meint Jutarnji list:

„Es gibt EU-Mitglieder, deren innenpolitische Krisen auch die EU erschüttern können. Deutschland ist eines von ihnen, vor allem wenn wichtige Entscheidungen zur Zukunft Europas bevorstehen. Ohne eine stabile und starke deutsche Regierung, in Zeiten, in denen in manch anderen Ländern überhaupt keine Regierung existiert, sie gerade zurücktritt oder man auf eine neue Regierung wartet - wie in Österreich, Finnland und Belgien -, hat die EU ein Problem. Und die EU braucht in den nächsten drei Wochen die Namen des künftigen Kommissionspräsidenten und für die vier anderen Schlüsselpositionen: Präsident des Europäischen Rats, des Parlaments, der Zentralbank und des Hohen Vertreters für Außenpolitik. ... Berlin spielt eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Kandidaten.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Adieu, stabiles Deutschland

Deutschland steht vor enormen Herausforderungen, betont Svenska Dagbladet:

„Es gibt nicht nur das Risiko von Neuwahlen - möglicherweise nach den Landtagswahlen im Herbst in Ostdeutschland, bei denen die AfD mit Rekordergebnissen rechnet. Sondern unter der Oberfläche gären auch eine ganze Reihe weiterer explosiver Konflikte. ... Die Kernkraftwerke sollen in gut zwei Jahren abgeschaltet und die Energiegewinnung aus Kohle soll bis 2038 abgeschafft werden. Wie eine der weltweit größten Industrienationen das überleben soll, ist unklar. ... Die Autoindustrie steht vor einer enormen Umstellung, die zehntausende Jobs kosten wird. Die Infrastruktur ist veraltet. ... Es ist keineswegs gesagt, dass Deutschland das nicht schaffen wird. Aber ruhig wird es nicht vor sich gehen. Nicht zuletzt, weil sich das Ganze vor dem Hintergrund einer sich grundlegend verändernden Parteienlandschaft abspielt.“