Wie wählt Großbritannien?

Am heutigen Donnerstag wählt Großbritannien ein neues Unterhaus. Premier Boris Johnson hatte den vorzeitigen Urnengang im Oktober beantragt, nachdem das Parlament seinen Brexit-Zeitplan abgelehnt hatte. Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung angibt, Johnson zu misstrauen, liegt er in Umfragen knapp vor Labour-Chef Jeremy Corbyn. Die Briten haben keine leichte Wahl, finden Kommentatoren.

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Jutarnji list (HR) /

Eine Gewissensfrage

Welche Fragen sich die britischen Wähler heute stellen müssen, erläutert Jutarnji List:

„Wer wird der schlimmere Premier sein? Johnson, der erwiesenermaßen über den Großteil seiner Karriere gelogen hat und zuallererst den eigenen Profit im Auge hat? Oder Corbyn, der für ziemliches Durcheinander in der britischen Wirtschaft sorgen würde mit seinen sozialistischen Initiativen? ... Die meisten Wähler finden Corbyn abstoßend, daher werden viele Labour wählen, in dem Glauben, die Partei sei das kleinere Übel, nicht aber wegen ihres Chefs. ... Johnson führt in den Umfragen. Doch seine Mehrheit ist hauchdünn und kann allein durch einen statistischen Fehler entstehen. Er hat keine Verbündeten mehr im Parlament und alles außer einer absoluten Mehrheit wäre eine Niederlage für ihn und den Brexit.“

Rzeczpospolita (PL) /

Angst vor Labour hilft Johnson

Corbyn schreckt stärker ab als ein harter Brexit, glaubt Rzeczpospolita:

„Die guten Umfragewerte Johnsons beruhigen die Märkte, denn obwohl der Brexit, den er am 31. Januar erzwingen will, möglicherweise keine vollständige Stabilisierung des Landes verspricht, ist er viel weniger revolutionär als das, was Jeremy Corbyn vorschlägt. Der Chef der Labour Party will die Staatsausgaben um 80 Milliarden Pfund pro Jahr und die Schulden in der kommenden Amtszeit um 150 Milliarden Pfund erhöhen. ... Während der ersten 100 Tage seiner Amtszeit will er einige Schlüsselindustrien wie die Wasser- und Stromverteilung verstaatlichen. Die Armee der Staatsangestellten würde sich um 310.000 erhöhen.“

Cumhuriyet (TR) /

Großbritannien bräuchte eine linke Politik

Die Briten sind am Scheideweg, konstatiert Cumhuriyet:

„Die heutige Wahl wird entweder die neoliberale Ära beenden und den Weg zu einem neuen Wirtschaftsmodell bereiten oder aber zu einem ungezügelten, dem 'neuen Faschismus' entgegenrennenden Kapitalismus führen. ... Eine Labour-Regierung würde die Wiederherstellung des Wohlfahrtsstaats, die Erweiterung der demokratischen Rechte und Freiheiten, die Wiederverstaatlichung der Sektoren Verkehr, Telekommunikation, Energie und Bildung, die Erneuerung der Infrastruktur der Gesellschaft und die Einführung eines neuen Wirtschaftsmodells bedeuten. ... Wenn so ein Modell erfolgreich wäre, würde das den Wunsch der Schotten nach Unabhängigkeit und die Gefahren für den Friedensprozess in Irland mindern.“

The Irish Times (IE) /

Johnson punktet als Entertainer

Wie es sein kann, dass so viele Briten dem Premier zugeneigt sind, obwohl sie ihn für nicht vertrauenswürdig halten, erklärt The Irish Times:

„Sie entscheiden sich, Johnson zu bestaunen, anstatt ihm zuzuhören. Sie erfreuen sich an der Show, anstatt sich Gedanken darüber zu machen, was er anzubieten hat. ... Ganz bewusst entscheiden sie sich, den Regierungschef gespalten zu sehen: Auf der einen Seite Johnson, der Scharlatan, auf der anderen Seite 'Boris', die 'Persönlichkeit'. Ersterem fehlt es an allen Qualitäten, die einst nötig waren, um als regierungsfähig angesehen zu werden - Vertrauen, Würde, Respekt -, und die Wähler wissen das. Doch sie entscheiden sich stattdessen für 'Boris' und dessen Qualitäten als Entertainer: Liebenswürdigkeit, Buntheit, Humor. Bei einem Unterhalter geht es ja genau darum, dass man ihm nicht glauben muss, um an ihn glauben zu können.“

Jyllands-Posten (DK) /

Corbyn ist der eigentliche Populist

Jyllands-Posten wirft einen Blick zurück auf das Brexit-Votum und lobt in diesem Zusammenhang Boris Johnson:

„Man kann wirklich diskutieren, ob sich Referenden als politisches Mittel in einer repräsentativen Demokratie eignen. Es ist auf jeden Fall ein zweischneidiges Schwert, unterläuft vielleicht sogar das demokratische System. ... Aber wenn man eine Volksabstimmung durchführt, muss man das Ergebnis auch umsetzen. ... Stattdessen schreit man 'Populismus', weil das Referendum der herrschenden Meinung zuwiderläuft. ... Dabei ist es bestimmt nicht Boris Johnson, der Populist ist. Er versucht nur zielstrebig, das Ergebnis umzusetzen. Dafür sollte er gelobt werden, auch in den dänischen Medien. Wenn jemand ein Populist ist, dann der Post-Trotzkist Jeremy Corbyn.“

Aftonbladet (SE) /

Labour kümmert sich um die Vernachlässigten

Aftonbladet blickt auf die unterfinanzierten britischen Krankenhäuser und illustriert die Lage am Beispiel eines Vierjährigen mit Lungenentzündung, der mangels Betten auf dem Boden schlafen musste:

„Die Tories bauen keine Gesellschaft für normale Menschen mit normalem Einkommen auf. Oder für Jack und seine Mutter, die ihren Vierjährigen in Decken einbetten musste, um ihn auf dem Krankenhausboden warm zu halten. Stattdessen setzen die Tories auf die Oberschicht. Zur gleichen Zeit haben Labour und Jeremy Corbyn das radikalste Wahlprogramm in der Geschichte der britischen Wahlen und vielleicht der Europäischen Sozialdemokratie ausgerufen. Die Staatsausgaben sollten um 83 Mrd. Pfund steigen - eine unvorstellbare Summe. ... Ob das realistisch ist und ob Corbyn am Freitag tatsächlich Premierminister wird, bleibt abzuwarten.“

The Times (GB) /

Eine Wahl der Qual

Bei dieser Unterhauswahl geht es nur darum, das Schlimmste zu verhindern, klagt The Times:

„Es gibt so wenig Begeisterung, weder für die Konservativen noch für Labour, dass taktisches Wählen und die Wahlbeteiligung entscheidend sein werden. Zwei ehemalige Regierungschefs, John Major und Tony Blair, die zusammengerechnet vier Wahlen gewonnen und beinahe 20 Jahre regiert haben, fühlen sich von ihren eigenen Parteien derart entfremdet, dass sie die Menschen auffordern, taktisch zu wählen. Dies, um eine klare Mehrheit für eine der beiden Parteien verhindern. Diese Wahl wird von jener Partei gewonnen werden, die von den Wählern als geringeres Übel eingestuft wird - nicht von jener, die die positivste Botschaft hat.“